Konflikt – ewiger Fluch oder Chance im Job?
Ein Gastbeitrag von Judit Teichert
Unruhe und Konflikte in Teams und Organisationen sind lästig und ärgerlich und nervig und so wahnsinnig unproduktiv. Streit ist doch eigentlich immer überflüssig und kräftezehrend. Wie schön wäre die Welt ohne Konflikte?
Wirklich? Ja, irgendwie schon. Natürlich wäre es toll, wenn alles immer nur harmonisch wäre. Wir verwenden entsprechend auch sehr viel Zeit, Energie und Geld darauf, Konflikte möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen oder zumindest so schnell wie möglich aus dem Weg zu räumen. Die Führungskräfte, die ich begleite, berichten oft davon, wieviel „Druck von oben“ sie nicht an ihr Team weitergeben, um keinen Konflikt aufkommen zu lassen.
Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich immer dann am meisten gelernt, wenn ich mich einem Konflikt gestellt habe und ihm so richtig auf den Grund gegangen bin. Ich möchte dich einladen, eine neue Perspektive auf Konflikte im Arbeitsumfeld einzunehmen: Konflikte sind – fast immer – produktiv und bieten eine Chance, das Lernen und Fortschritt stattfindet. Das alles ist natürlich einfacher gesagt als getan. Deswegen stelle ich einige Ideen vor, wie du erkennst, ob ein Konflikt produktiv ist, wie du ihn in produktive Bahnen lenken kannst und wie du deine eigene Konflikttoleranz aufbauen kannst.
Die eigene Konflikttoleranz entwickeln
Für Menschen ist es unterschiedlich leicht, Konflikte auszuhalten. Mir fällt es beruflich als Trainerin und Beraterin recht leicht, weil ich dort von außen beobachte und Impulse gebe. Privat tue ich mich schwerer. Hier bin ich selbst Teil des Systems und vertrete eigene Interessen. Ob jemand Konflikte gut toleriert hängt also nicht nur von der Persönlichkeit ab, sondern variiert auch je nach Situation.
Viele Menschen reagieren innerlich panisch, wenn es konflikthaft wird und versuchen dann Harmonie herzustellen: Lösungen anbieten oder durchsetzen, beruhigen und
besänftigen, den Konflikt vermeiden oder es „schön“ machen. Dadurch wird es schwer, den Konflikt als Lernmoment zu nutzen.
Konflikte auszuhalten und in produktive Bahnen zu lenken kann man lernen. Ähnlich wie
Schwimmen. So wie man schwimmen nicht im offenen Atlantik lernt, sondern im Nichtschwimmerbecken, so geht es im ersten Schritt darum, den Konflikt zu beobachten und besser zu verstehen.
Konflikte als Lernmomente
Wenn du das nächste Mal mit einem Konflikt konfrontiert bist – mit einem Kollegen oder einer Kollegin, im Team oder in deiner Organisation – dann halte inne und sage dir: Was für eine großartige Gelegenheit! Was mag mir dieser Konflikt aufzeigen? (Schon okay, wenn dir das zunächst nur schwer über die Lippen kommt).
Hier zwei typische Beispiele, die mir in der Arbeit mit Sozialorganisationen häufig begegnen:
1. In einer Jugendhilfsorganisation rangelten Abteilungen mit wirtschaftlichem Hintergrund (Controlling, Personalbüro, betriebswirtschaftliches Management) mit den pädagogischen Abteilungen darum, wer wichtiger für das Fortkommen der Organisation ist. Nicht so direkt natürlich, aber immer wieder schwangen in Sitzungen Sticheleien mit, dass die einen „nur auf die Zahlen achten“ während die anderen „kein Gespür dafür haben,
dass es finanzielle Grenzen gibt“. Es gab wenig Austausch zwischen den verschiedenen Lagern, die Pädagogen fühlten sich zu wenig als wertschöpfende Kraft wertgeschätzt und die administrativen Abteilungen fühlten sich zu wenig in ihrer Arbeit unterstützt und in ihrer Wichtigkeit ebenfalls nicht anerkannt.
2. In einer anderen Organisation fand ein Generationenwechsel statt. Viele langjährige Mitarbeitende sollten nun mit einigen neuen, deutlich jüngeren Kolleg:innen zusammenarbeiten, die andere Vorstellungen von Zusammenarbeit hatten und sehr motiviert Veränderungen diesbezüglich anstoßen wollten. Auch hier war die Atmosphäre in Teamterminen angespannt, immer wieder entstanden Reibungen darum, wie Prozesse bisher
gestaltet waren, wie dringend Veränderungen angegangen werden sollten und was gut lief, so wie es war.
Konflikte sind zunächst ein spannender Indikator dafür, dass es sich lohnt, genau hinzuschauen und hinzuhören. Denn Konflikte zeigen auf:
- wo Veränderungsarbeit stattfinden muss.
- wo Dissens in einem Team vorherrscht und ernst genommen werden muss.
- wo Brücken zwischen verschiedenen Teilen eines Teams oder eines Unternehmens gebaut werden sollten.
- wo Leitung und andere Teammitglieder neugierig nachfragen können: Du scheinst das anders als ich
zu sehen. Kannst du mir bitte mehr erzählen?
Die Produktivität von Konflikten einschätzen
Natürlich sind nicht alle Konflikte produktiv. Nur: Woran merke ich, dass ein Konflikt schadet und nicht nützt? Eine Möglichkeit ist sich vorzustellen, dass bei einem Konflikt „Hitze“ oder auch „Unruhe“ entsteht. Das Ausmaß der Hitze kann jedoch schwanken:
1 Geringe Hitze = Komfortzone: Hier findet wenig produktive Auseinandersetzung statt. Oft ist das der Zustand, in dem Menschen einen Konflikt unter den Teppich kehren.
2 Sehr hohe Hitze = Panikzone: Hier findet auch wenig produktive Auseinandersetzung statt, denn die Menschen fühlen sich durch den Konflikt überfordert.
3 Zwischen diesen beiden Zonen = Lernzone: Der Bereich, in dem Lernen und nachhaltige Veränderung stattfindet, in dem die Menschen sich beteiligen und Fortschritte erzielen.
Konflikte sind also immer dann produktiv, wenn die Hitze angemessen dosiert ist: Es muss dringend und heiß genug sein, dass sich die betroffenen Personen aus ihrer Komfortzone herausbewegen und dass Lernen und Auseinandersetzung möglich sind. Gleichzeitig darf die Toleranzschwelle der Personen für Hitze nicht überschritten werden – es darf nicht zu heiß werden. Es lohnt sich, gut einzuordnen, ob das, was man beobachtet, Anzeichen
für Lernen, für Panik oder für Komfort ist.
Mögliche Indikatoren für Lernen sind:
- Es wird inhaltlich und authentisch diskutiert.
- Es werden offen kontroverse Standpunkte angesprochen.
Einige Indikatoren für Panik (und Achtung! Panik bedeutet nicht nur „wütendes oder ängstliches Ausagieren“ sondern kann alle Formen von Kämpfen, Flüchten und Erstarren annehmen), z.B.:
- mentales Rausbeamen
- tatsächliches Verlassen des Raumes
- Attackieren, Bloßstellen, schwarze Peter zuschieben
- Diskussionen über die Art der Treffen, die Art der Moderation, …
- Festhalten an technischen Aspekten des Problems
Einige Indikatoren für Komfort können sein:
- passive Teilnahmekeine oder nur vereinzelte Verantwortungsübernahme
- wenig Beteiligung (explizit verbal oder auch wenig Mitdenken)
Produktive Konflikte regulieren und Lernen befördern
Im ersten Schritt lohnt es sich, besser darin zu werden, Konflikte, die Hitze, die dadurch entsteht und den Umgang damit gelassener zu beobachten. Anschließend stellen sich natürlich die Fragen: Wie kann ich die Temperatur regulieren? Wann und wie greife ich in Konflikte ein, damit Lernen stattfindet?
Um die Temperatur zu erhöhen eignen sich folgende Strategien:
1. schwierige und zentrale Fragen fokussieren
2. den Beteiligten mehr Verantwortung geben als das Maß, mit dem sie sich wohl fühlen (wohl dosierte (Über-)Forderung)
3. Konflikte spürbar und explizit werden lassen
4. provokative Kommentare tolerieren
5. die Gruppendynamik im Hier-und-Jetzt benennen und als Spiegel zentraler Herausforderungen der Gruppe nutzbar machen (z.B. die Verantwortung komplett an die Autorität abgeben bei einer Organisation, die mit steiler Hierarchie hadert; jemand einzelnen als schwarzen Peter brandmarken und alle Verantwortung bei dieser Person sehen bei einer Organisation, die sich mit der Marginalisierung von Minderheiten beschäftigt)
Wenn es zu heiß wird, wird Lernen unmöglich. Diese Strategien reduzieren Hitze:
1. diejenigen Aspekte mit den offensichtlichsten Lösungen adressieren, ebenso wie solche, die
durch Expertise oder Autorität entschieden werden können
2. Struktur geben, indem (a) das Problem in Teile aufgebrochen wird, (b) ein zeitlicher Horizont vorgegeben wird oder © Regeln für Entscheidungen und Aufgaben für
verschiedene Rollen aufgestellt werden
3. kurzzeitig die Verantwortung für schwierige Probleme übernehmen (aber nicht vergessen, die Menschen wieder zu beteiligen bei kollektiven Herausforderungen!)
4. Vermeidungsmechanismen nutzen (eine Pause nehmen, eine Geschichte oder einen Witz erzählen, eine Übung machen, …)
5. den Prozess entschleunigen: Normen und Erwartungen weniger rasant oder weniger auf einmal hinterfragen
Insbesondere Führungskräfte regulieren die Hitze oft allzu schnell herunter, um für Harmonie zu sorgen. Im obigen Beispiel der Jugendhilfsorganisation war die Versuchung für den Geschäftsführer groß, die verschiedenen
Lager (Pädagog:innen, administrative Abteilungen) immer wieder zu besänftigen und sich an den hohen Erwartungen beider Seiten aufzureiben anstatt den Konflikt direkt zu benennen und einen produktiven Austausch der beteiligten Personen zu fördern. Dieses Verhalten einer Führungskraft ist sehr verständlich. Sie möchte damit eine Eskalation vermeiden, nicht an angespannter Atmosphäre schuldig sein und für gute Stimmung sorgen. Doch oftmals ist genau das kontraproduktiv und verhindert Lernen. Insbesondere Führungskräfte sollten deshalb ihre
Fähigkeit, Konflikte auszuhalten, zu regulieren und gar zu orchestrieren bewusst entwickeln.
Quellen und Weiterführende Literatur
Heifetz, R. A., Grashow, A., & Linsky, M. (2009). The practice of adaptive leadership: Tools and tactics
for changing your organization and the world. Boston, MA: Harvard Business Press.
O’Brien, T. (2019, June 18). When Your Job Is Your Identity, Professional Failure Hurts More [Web log post]. Retrieved from https://hbr.org/2019/06/how-we-confuse-our-roles-with-our-self
Foto: © Lupo // Cordero