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Ist psy­chi­sche Stö­rung (auch) eine Bezie­hungs­stö­rung?

Juni 2022 | Manage­ment

Ist eine psy­chi­sche Stö­rung (auch) eine Bezie­hungs­stö­rung?


Die Fra­ge lässt sich mehr­fach mit Ja beant­wor­ten. Ja, weil in der psy­chi­schen Ent­wick­lung (ver­mut­lich ver­stö­ren­de) Bezie­hungs­er­fah­run­gen auf eine Art und Wei­se von den Betrof­fe­nen ver­ar­bei­tet wur­den, dass die­se ihre Psy­che nur ein­ge­schränkt ent­wi­ckeln konn­ten. Ja, weil Betrof­fe­ne des­halb in ihrer eige­nen intra­psy­chi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on ein­ge­schränkt sind. Ja, weil Betrof­fe­ne in ihrer Bezie­hungs- und Inter­ak­ti­ons­fä­hig­keit gestört sind. Ja, weil auch Hel­fer in der Inter­ak­ti­on mit Betrof­fe­nen in sol­che gestör­ten Bezie­hungs­mus­ter hin­ein­ge­ra­ten. Die Fra­ge mit so vie­len Jas zu beant­wor­ten, ermög­licht ein ver­tief­tes Ver­ständ­nis von dem, was in Men­schen mit psy­chi­scher Beein­träch­ti­gung inner­lich abläuft. Ein sol­ches Ver­ständ­nis erlaubt, den Kli­en­ten gegen­über gelas­sen und somit hilf­reich zu sein.

Neben dem psy­cho­ana­ly­ti­schen Ver­ständ­nis gibt vor allem die Bin­dungs­theo­rie nach John Bowl­by und Mary Ains­worth ver­ständ­li­che Kon­zep­te an die Hand, um den Zusam­men­hang von psy­chi­scher Stö­rung und gestör­ter Bezie­hungs­er­fah­rung zu begrei­fen. Ein Kind wird mit der Fähig­keit, sich zu bin­den, gebo­ren. Wie die­se Fähig­keit im Ein­zel­nen aus­ge­prägt wird, hängt von indi­vi­du­el­len Bin­dungs- und Bezie­hungs­er­fah­run­gen ab. Das indungs­sys­tem regt einer­seits die Suche nach Gebor­gen­heit, Sicher­heit und das Bedürf­nis, Teil der Grup­pe zu sein, sowie ande­rer­seits den For­scher­drang, das Neu­gier­de- und Risi­ko­ver­hal­ten an. Bezie­hungs­er­fah­run­gen wer­den ver­in­ner­licht. Hier­bei ent­steht eine inne­re Büh­ne mit ver­schie­de­nen Dar­stel­lern, die sowohl das „Ich“ reprä­sen­tie­ren als auch Vor­stel­lun­gen von „dem/den Ande­ren“.

Hat man unter­stüt­zen­de, wich­ti­ge Bezugs­per­so­nen erlebt, kann man z. B. in eine Prü­fungs­si­tua­ti­on mit fol­gen­der

intra­psy­chi­scher Büh­ne gehen: ein „Ich“ mit einem guten Selbst­wert­ge­fühl, einem ver­mu­te­ten Bild des Prü­fers, das ange­mes­sen rea­li­täts­nah ist, einem Selbst­ver­trau­en, das einem sagt: „Du schaffst das!“, einer Kom­mu­ni­ka­ti­ons-fähig­keit, die in der Lage ist, auch bei Auf­re­gung nach­zu­fra­gen und rich­tig zuzu­hö­ren, einer Hand­lungs­fä­hig­keit nach innen, wel­che es ermög­licht, die gelern­ten Inhal­te abru­fen zu kön­nen und einer Hand­lungs­fä­hig­keit nach außen, um die­se Inhal­te aus­zu­spre­chen und zu prä­sen­tie­ren. Hin­zu kom­men intra­psy­chi­sche Hel­fer­in­stan­zen, wel­che intra­psy­chi­sche Befürch­tun­gen und Erre­gungs­zu­stän­de beru­hi­gen kön­nen und somit hel­fen, den Blick nach vor­ne zu rich­ten.

Hat jemand eher abwer­ten­de und ungu­te Bezie­hungs­er­fah­run­gen gemacht, kann die Büh­ne wie folgt aus­se­hen: ein klei­nes Kin­der-Ich, etwas ver­ängs­tigt, steht gegen­über einer oder meh­re­ren gro­ßen Auto­ri­tä­ten, die mit stren­gem Blick alles schnell abwer­ten. Als Hel­fer­in­stan­zen in der Situa­ti­on gibt es Angst­ver­stär­ker, die sagen; „Auf­pas­sen!“, da ansons­ten noch mehr Gefahr droht. Das Adre­na­lin­sys­tem wird auf Hoch­tou­ren gepusht, weil viel Gefahr ver­or­tet wird. Die Hand­lungs­sys­te­me sind dar­auf aus­ge­rich­tet, psy­chi­sche Ernied­ri­gung zu ver­mei­den oder mit die­ser klar­zu­kom­men.

Sicher­lich sind die­se bei­den Bil­der extrem, aber sie ver­deut­li­chen, wie bio­gra­fi­sche Bezie­hungs­er­fah­run­gen und psy­chi­sche Stö­rung bzw. aktu­el­les Ver­hal­ten mit­ein­an­der zusam­men­hän­gen kön­nen. Sie bie­ten auch Erklä­rungs­mus­ter, wie psy­chi­sche Stö­rungs­mus­ter auf der inne­ren Büh­ne auf­recht­erhal­ten wer­den. Und es

wird auch ver­ständ­lich, war­um man als Hel­fer sei­tens des Kli­en­ten mal in die eine oder ande­re Rol­le gedrängt wird, obwohl man sich fach­lich gleich ver­hält.

Betrach­tet man psy­chi­sche Stö­run­gen unter dem Aspekt einer Fol­ge nach innen ver­la­ger­ter dys­funk­tio­na­ler Bezie­hungs­mus­ter, ermög­licht das Fol­gen­des: als Hel­fer gewinnt man ein dif­fe­ren­zier­te­res Bild, was in den Kli­en­ten vor sich geht und wel­che Aus­wir­kung das auch auf das Bezie­hungs­ver­hal­ten zum Hel­fer und zu sei­ner Umwelt

hat. Das ist natür­lich ein weit­aus tie­fe­res Ver­ständ­nis einer psy­chi­schen Stö­rung als das Erler­nen von Sym­pto­men und von Regeln des Umgangs. Man kann also dif­fe­ren­zier­ter, situa­tiv ange­pass­ter und indi­vi­du­ell effi­zi­en­ter mit dem Kli­en­ten umge­hen. Gleich­zei­tig wird das eige­ne Krän­kungs­po­ten­ti­al bzw. die Ten­denz, sich im Hil­fe­ge­sche­hen zu ver­aus­ga­ben, redu­ziert.

Zu guter Letzt: Bezie­hungs­ar­beit schafft nicht nur Ver­trau­en, son­dern, wenn man sich als Hel­fer die eige­nen inne­ren Wahr­neh­mun­gen und Reak­tio­nen auf den Kli­en­ten bewusst macht, gewinnt man vie­le Infor­ma­tio­nen über ihn. Die­se kann man ent­we­der als eine empa­thi­sche Spie­ge­lung zurück­ge­ben oder sie ermög­li­chen es einem, bes­ser zu

ver­ste­hen, war­um bestimm­te Ver­wick­lun­gen ent­ste­hen kön­nen und wie man sich davor schützt. Das betrifft den Bereich der Über­tra­gung und Gegen­über­tra­gung.

Unter der Über­tra­gung ver­steht man die unbe­wuss­te Dyna­mik, dass der Kli­ent im Hel­fer nicht mehr das rea­le Gegen­über sieht, son­dern in ihn (meist) eine bekann­te Bezie­hungs­per­son pro­ji­ziert. Bei die­sem Vor­gang, der unbe­wusst abläuft, bleibt auch der Kli­ent selbst nicht mehr auf Augen­hö­he, son­dern fällt z.B. in die „Kin­der­rol­le“. Obwohl plötz­lich ein Rück­fall in den Ver­gan­gen­heits­film statt­fin­det, wird es meist vom Kli­en­ten als sehr aktu­ell und

mit star­ken Gefüh­len erlebt. Das Erle­ben des Hel­fers wird als Gegen­über­tra­gung defi­niert. Das kann unter­schied­lichs­te Aspek­te auf­wei­sen: Fühlt sich der Hel­fer bei einem Kli­en­ten mit Angst­stö­rung z.B. auch stark ver­un­si­chert, gestresst, hilf­los, so kann das die Gefüh­le des Kli­en­ten spie­geln. Man ver­steht mehr, wie es in dem Kli­en­ten aus­sieht, kann empha­tisch spie­gelnd reagie­ren. Wird der Hel­fer unge­dul­dig, ärger­lich etc. so kann dies die Reak­ti­on bekann­ter Bezie­hungs­per­so­nen oder das eige­ne Über-Ich des Kli­en­ten spie­geln. Wenn ein Kli­ent sei­ne Angst sehr ver­steckt und statt­des­sen aggres­siv nach Außen auf­tritt, kön­nen die Ver­un­si­che­rungs- und

Befürch­tungs­ge­füh­le des Hel­fers nicht unbe­dingt sei­ne eige­ne rea­le Ein­schät­zung der Situa­ti­on spie­geln, son­dern viel­mehr gewinnt er so ein Bild, was im Kli­en­ten hin­ter der Fas­sa­de pas­siert. Kurz­um: Wenn man als Hel­fer sei­ne eige­nen Reak­tio­nen in der Bezie­hung mit dem Kli­en­ten nicht nur der rea­len Situa­ti­on zuord­net, son­dern auch erkennt, dass man Infor­ma­tio­nen über Innen­le­ben und Bezie­hungs­struk­tu­ren des Kli­en­ten erhält, muss man nicht in jede Bezie­hungs­fal­le tap­pen.

Fazit: Bezie­hungs­er­fah­run­gen wer­den intra­psy­chisch ver­ar­bei­tet und bil­den eine Art Pro­gram­mie­rung, die zur Selbst­re­gu­la­ti­on, Kom­mu­ni­ka­ti­on und Hand­lungs­fä­hig­keit die­nen. Nega­ti­ve Bezie­hungs­er­fah­rung wir­ken sich destruk­tiv auf die­ses Sys­tem und die Vor­stel­lung von einem selbst und sei­ner Umwelt aus. Gute Bezie­hungs­er­fah­run­gen jedoch stär­ken das Ich und damit auch die Selbst­wirk­sam­keit im Außen. In der Inter­ak­ti­on mit dem Kli­en­ten tre­ten dem Hel­fer gegen­über Phä­no­me­ne auf, die als Über­tra­gung und Gegen­über­tra­gung bezeich­net wer­den.

Das Wis­sen um die Bedeu­tung von Bin­dung? Bezie­hungs­er­fah­run­gen? in der Arbeit mit Men­schen mit psy­chi­scher Beein­träch­ti­gung ermög­licht ein tie­fe­res Ver­ständ­nis wovon? Dies unter­stützt eine kla­re, für den Kli­en­ten hilf­rei­che

Bezie­hungs­ge­stal­tung. Der Hel­fer gewinnt Infor­ma­tio­nen über das Innen­le­ben der Kli­en­ten sowie deren Bezie­hungs­struk­tu­ren. All dies sind Fak­to­ren, die für ein aktu­el­les, meist dys­funk­tio­na­les Ver­hal­ten bedeut­sam sind.

Foto: Ilka Perc


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