Ist eine psychische Störung (auch) eine Beziehungsstörung?
Die Frage lässt sich mehrfach mit Ja beantworten. Ja, weil in der psychischen Entwicklung (vermutlich verstörende) Beziehungserfahrungen auf eine Art und Weise von den Betroffenen verarbeitet wurden, dass diese ihre Psyche nur eingeschränkt entwickeln konnten. Ja, weil Betroffene deshalb in ihrer eigenen intrapsychischen Kommunikation eingeschränkt sind. Ja, weil Betroffene in ihrer Beziehungs- und Interaktionsfähigkeit gestört sind. Ja, weil auch Helfer in der Interaktion mit Betroffenen in solche gestörten Beziehungsmuster hineingeraten. Die Frage mit so vielen Jas zu beantworten, ermöglicht ein vertieftes Verständnis von dem, was in Menschen mit psychischer Beeinträchtigung innerlich abläuft. Ein solches Verständnis erlaubt, den Klienten gegenüber gelassen und somit hilfreich zu sein.
Neben dem psychoanalytischen Verständnis gibt vor allem die Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth verständliche Konzepte an die Hand, um den Zusammenhang von psychischer Störung und gestörter Beziehungserfahrung zu begreifen. Ein Kind wird mit der Fähigkeit, sich zu binden, geboren. Wie diese Fähigkeit im Einzelnen ausgeprägt wird, hängt von individuellen Bindungs- und Beziehungserfahrungen ab. Das indungssystem regt einerseits die Suche nach Geborgenheit, Sicherheit und das Bedürfnis, Teil der Gruppe zu sein, sowie andererseits den Forscherdrang, das Neugierde- und Risikoverhalten an. Beziehungserfahrungen werden verinnerlicht. Hierbei entsteht eine innere Bühne mit verschiedenen Darstellern, die sowohl das „Ich“ repräsentieren als auch Vorstellungen von „dem/den Anderen“.
Hat man unterstützende, wichtige Bezugspersonen erlebt, kann man z. B. in eine Prüfungssituation mit folgender
intrapsychischer Bühne gehen: ein „Ich“ mit einem guten Selbstwertgefühl, einem vermuteten Bild des Prüfers, das angemessen realitätsnah ist, einem Selbstvertrauen, das einem sagt: „Du schaffst das!“, einer Kommunikations-fähigkeit, die in der Lage ist, auch bei Aufregung nachzufragen und richtig zuzuhören, einer Handlungsfähigkeit nach innen, welche es ermöglicht, die gelernten Inhalte abrufen zu können und einer Handlungsfähigkeit nach außen, um diese Inhalte auszusprechen und zu präsentieren. Hinzu kommen intrapsychische Helferinstanzen, welche intrapsychische Befürchtungen und Erregungszustände beruhigen können und somit helfen, den Blick nach vorne zu richten.
Hat jemand eher abwertende und ungute Beziehungserfahrungen gemacht, kann die Bühne wie folgt aussehen: ein kleines Kinder-Ich, etwas verängstigt, steht gegenüber einer oder mehreren großen Autoritäten, die mit strengem Blick alles schnell abwerten. Als Helferinstanzen in der Situation gibt es Angstverstärker, die sagen; „Aufpassen!“, da ansonsten noch mehr Gefahr droht. Das Adrenalinsystem wird auf Hochtouren gepusht, weil viel Gefahr verortet wird. Die Handlungssysteme sind darauf ausgerichtet, psychische Erniedrigung zu vermeiden oder mit dieser klarzukommen.
Sicherlich sind diese beiden Bilder extrem, aber sie verdeutlichen, wie biografische Beziehungserfahrungen und psychische Störung bzw. aktuelles Verhalten miteinander zusammenhängen können. Sie bieten auch Erklärungsmuster, wie psychische Störungsmuster auf der inneren Bühne aufrechterhalten werden. Und es
wird auch verständlich, warum man als Helfer seitens des Klienten mal in die eine oder andere Rolle gedrängt wird, obwohl man sich fachlich gleich verhält.
Betrachtet man psychische Störungen unter dem Aspekt einer Folge nach innen verlagerter dysfunktionaler Beziehungsmuster, ermöglicht das Folgendes: als Helfer gewinnt man ein differenzierteres Bild, was in den Klienten vor sich geht und welche Auswirkung das auch auf das Beziehungsverhalten zum Helfer und zu seiner Umwelt
hat. Das ist natürlich ein weitaus tieferes Verständnis einer psychischen Störung als das Erlernen von Symptomen und von Regeln des Umgangs. Man kann also differenzierter, situativ angepasster und individuell effizienter mit dem Klienten umgehen. Gleichzeitig wird das eigene Kränkungspotential bzw. die Tendenz, sich im Hilfegeschehen zu verausgaben, reduziert.
Zu guter Letzt: Beziehungsarbeit schafft nicht nur Vertrauen, sondern, wenn man sich als Helfer die eigenen inneren Wahrnehmungen und Reaktionen auf den Klienten bewusst macht, gewinnt man viele Informationen über ihn. Diese kann man entweder als eine empathische Spiegelung zurückgeben oder sie ermöglichen es einem, besser zu
verstehen, warum bestimmte Verwicklungen entstehen können und wie man sich davor schützt. Das betrifft den Bereich der Übertragung und Gegenübertragung.
Unter der Übertragung versteht man die unbewusste Dynamik, dass der Klient im Helfer nicht mehr das reale Gegenüber sieht, sondern in ihn (meist) eine bekannte Beziehungsperson projiziert. Bei diesem Vorgang, der unbewusst abläuft, bleibt auch der Klient selbst nicht mehr auf Augenhöhe, sondern fällt z.B. in die „Kinderrolle“. Obwohl plötzlich ein Rückfall in den Vergangenheitsfilm stattfindet, wird es meist vom Klienten als sehr aktuell und
mit starken Gefühlen erlebt. Das Erleben des Helfers wird als Gegenübertragung definiert. Das kann unterschiedlichste Aspekte aufweisen: Fühlt sich der Helfer bei einem Klienten mit Angststörung z.B. auch stark verunsichert, gestresst, hilflos, so kann das die Gefühle des Klienten spiegeln. Man versteht mehr, wie es in dem Klienten aussieht, kann emphatisch spiegelnd reagieren. Wird der Helfer ungeduldig, ärgerlich etc. so kann dies die Reaktion bekannter Beziehungspersonen oder das eigene Über-Ich des Klienten spiegeln. Wenn ein Klient seine Angst sehr versteckt und stattdessen aggressiv nach Außen auftritt, können die Verunsicherungs- und
Befürchtungsgefühle des Helfers nicht unbedingt seine eigene reale Einschätzung der Situation spiegeln, sondern vielmehr gewinnt er so ein Bild, was im Klienten hinter der Fassade passiert. Kurzum: Wenn man als Helfer seine eigenen Reaktionen in der Beziehung mit dem Klienten nicht nur der realen Situation zuordnet, sondern auch erkennt, dass man Informationen über Innenleben und Beziehungsstrukturen des Klienten erhält, muss man nicht in jede Beziehungsfalle tappen.
Fazit: Beziehungserfahrungen werden intrapsychisch verarbeitet und bilden eine Art Programmierung, die zur Selbstregulation, Kommunikation und Handlungsfähigkeit dienen. Negative Beziehungserfahrung wirken sich destruktiv auf dieses System und die Vorstellung von einem selbst und seiner Umwelt aus. Gute Beziehungserfahrungen jedoch stärken das Ich und damit auch die Selbstwirksamkeit im Außen. In der Interaktion mit dem Klienten treten dem Helfer gegenüber Phänomene auf, die als Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet werden.
Das Wissen um die Bedeutung von Bindung? Beziehungserfahrungen? in der Arbeit mit Menschen mit psychischer Beeinträchtigung ermöglicht ein tieferes Verständnis wovon? Dies unterstützt eine klare, für den Klienten hilfreiche
Beziehungsgestaltung. Der Helfer gewinnt Informationen über das Innenleben der Klienten sowie deren Beziehungsstrukturen. All dies sind Faktoren, die für ein aktuelles, meist dysfunktionales Verhalten bedeutsam sind.
Foto: Ilka Perc
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