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Mes­sie-Syn­drom – Patho­lo­gi­sches Hor­ten ist nicht gleich Ver­mül­lung

April 2023 | Orga­ni­sa­ti­on & Ent­wick­lung

Messie-Syndrom – Pathologisches Horten ist nicht gleich Vermüllung


In die­sem Inter­view-Bei­trag geht es um zwei von drei Aus­prä­gungs­for­men des Mes­sie-Syn­droms: Das patho­lo­gi­sche Hor­ten und das Ver­mül­lungs­syn­drom. Sie unter­schei­den sich in Ursa­chen, Sym­pto­men und Behand­lung. In unse­rem letz­ten Bei­trag sind wir auf die Defi­ni­ti­on des Mes­sie-Syn­droms als Über­be­griff ein­ge­gan­gen. Lesen Sie den Arti­kel hier.

Vero­ni­ka Schrö­ter forscht und arbei­tet seit 23 Jah­ren zum Mes­sie-Syn­drom. Sie ist Grün­de­rin und Lei­te­rin des Mes­sie-Kom­pe­tenz-Zen­trums in Stutt­gart und bil­det bun­des­weit Fach­kräf­te und Ein­rich­tun­gen für die Arbeit mit Betrof­fe­nen aus. Erfah­ren hier Sie mehr über die Fort­bil­dung.

Teil 2: Pathologische Horten vs. Vermüllungssyndrom

Frau Schröter, warum ist es wichtig, das Pathologische Horten von anderen Ausprägungstypologien zu unterscheiden?

Schrö­ter: Weil die­ses Krank­heits­bild nichts mit den übli­chen Bil­dern wie beim „Ver­mül­lungs­syn­drom“ zu tun hat. Das patho­lo­gi­sche Hor­ten ist ein eige­stän­di­ges Krank­heits­bild. Das heißt es braucht eine völ­lig ande­re Vor­ge­hens­wei­se und Beglei­tung und The­ra­pie.

In den Räu­men der Betrof­fe­nen ist es tro­cken, es ist kei­ner­lei Unge­zie­fer vor­zu­fin­den und die Bau­sub­stanz ist nicht beschä­digt. Kenn­zeich­nend ist eine erheb­li­che Anhäu­fung von Gegen­stän­den, die unter kei­nen Umstän­den los­ge­las­sen wer­den kön­nen. Die­se hat Aus­prä­gungs­ty­po­lo­gie eine voll­stän­dig ande­re Ursa­chen­her­kunft als die ande­ren For­men.

Was sind die Ursachen des pathologischen Hortens?

Schrö­ter: Es wird in den Zusam­men­hang mit einer frü­hen Bin­dungs­trau­ma­fol­ge­stö­rung gebracht, die den ers­ten drei Lebens­jah­ren zuge­ord­net wird. Auf über 90% der Betrof­fe­nen han­delt es sich dabei um eine Art frü­hes „Gezwun­gen wor­den sein“. Als Kin­der haben Betrof­fe­ne nicht die Erfah­rung gemacht, einen kla­ren Raum für den eige­nen Wil­len, den eige­nen Bedürf­nis­sen oder Wün­schen zuge­spro­chen bekom­men zu haben.

Dabei wol­len Kin­der natür­li­cher­wei­se ent­de­cken und aus­pro­bie­ren. Sie sind aus­ge­spro­chen neu­gie­rig und dar­in soll­ten sie bestärkt wer­den. Sie sol­len auch geführt und, wie im Bei­spiel der hei­ßen Herd­plat­te, vor sich selbst bewahrt wer­den. Typi­scher­wei­se wur­den Men­schen, die vom patho­lo­gi­schen Hor­ten betrof­fen sind , von ihren Eltern in extre­mer Form fremd­be­stimmt. Der Wil­le muss­te den Vor­stel­lun­gen der Eltern, wie das Kind zu sein hat, unter­ge­ord­net wer­den. Wir spre­chen hier von sehr rigi­den und auto­ri­tä­ren Erzie­hungs­for­men bis hin zu emo­tio­na­lem Miss­brauch der Eltern.

Hin­weis: Im fol­gen­den Abschnitt wer­den Bei­spie­le für sub­ti­le und offen­sicht­li­che Über­grif­fe an Kin­dern auf­ge­führt.


Was bedeu­tet „Gezwun­gen wor­den sein“? Wenn es zum Bei­spiel hin­sicht­lich der Spiel­sa­chen kei­ne Wahl­mög­lich­kei­ten gab oder über­haupt die eige­nen Inter­es­sen, Impul­se und Wün­sche so gut wie kei­ne Auf­merk­sam­keit bekom­men haben. Zum Bei­spiel auch, wenn das Kind bestimm­te Freun­de ein­la­den woll­te und die­se, weil es der Vor­stel­lun­gen der Eltern nicht ent­sprach, nicht mehr kom­men durf­ten. Kin­der mit patho­lo­gi­schem Hor­ten waren erheb­li­chen Zwangs­struk­tu­ren aus­ge­setzt. Enor­me Kon­se­quen­zen sind auch hin­sicht­lich der Sau­ber­keits­er­zie­hung zu sehen. Das konn­te so weit gehen, dass ein Kind an den Topf fest­ge­bun­den wur­de oder nachts aus dem Schlaf geris­sen wur­de, um den Ansprü­chen der Eltern gerecht zu wer­den.

Wie wirkt sich das im Erwachsenenalter aus?

Schrö­ter: Das eige­ne Dasein konn­te sich dadurch nicht ent­fal­ten. Betrof­fe­ne soll­ten sich in ihren Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen so ent­wi­ckeln, wie es den Vor­stel­lun­gen der Eltern ent­sprach. Damit wird das eige­ne Lebens­ge­fühl erheb­lich unter­bun­den, bis hin zu Ein­schrän­kun­gen für das eige­ne Kör­per­ge­fühl und den eige­nen Bio­rhyth­mus.

Die Men­schen wer­den groß und sind in eine Über­an­ge­passt­heit gera­ten. Über das lieb und brav sein, sind sie zu enor­men Leis­tun­gen fähig und erlan­gen dar­über Aner­ken­nung und Akzep­tanz. Dies erklärt war­um die­ses Kli­en­tel in beruf­lich hohen Stel­lun­gen und Posi­tio­nen vor­zu­fin­den sind. 

Sich dies­be­züg­lich ein­sei­tig ent­wi­ckelnd konn­ten sie kei­ne Ant­wor­ten auf die Fra­gen „Wer bin ich?“ und „Was mag ich eigent­lich?“ her­aus­bil­den und ins Leben brin­gen. Ich sto­ße bei die­sen Klient:innen auf viel­schich­ti­ge Inter­es­sen.

Die­se wur­den aber nicht geför­dert, geführt und ver­nünf­tig kana­li­siert. Spä­ter mer­ken sie häu­fig, dass sie sich beruf­lich ver­ga­lop­piert haben. Vie­le haben sehr viel gear­bei­tet, sind auch oft erfolg­reich, aber sie haben sich, wie schon gesagt ein­sei­tig ent­wi­ckelt. Die See­le liegt brach. Des­halb habe ich übri­gens auch noch Berufs­coa­ching dazu gelernt. Um Men­schen zu einer Ihnen gemä­ßen Berufs­rich­tung zu ver­hel­fen.


Gibt es wei­te­re Ursa­chen?

Schrö­ter: Ja, das ist das ein emo­tio­nal sehr früh im Stich gelas­sen wor­den sein. Wenn Eltern zum Bei­spiel nicht wirk­lich erfahr­bar waren. Oder aber, wenn die Eltern selbst psy­chisch erkrankt waren. Allein­ge­las­se­ne sich selbst über­las­se­ne Kin­der. Es ent­stand ein emo­tio­nal kal­tes Umfeld, in dem wenig bis gar nicht gehal­ten und gerös­tet wor­den ist.

Ein ande­res Bei­spiel hier­für ist auch, wenn Kin­der von den Eltern instru­men­ta­li­siert wur­den. Anstatt für das Kind und sei­ne Ent­wick­lung offen zu sein, wur­den sie mit den Leid der Eltern belas­tet. Ein emo­tio­na­les im Stich gelas­sen sein ent­steht aber auch, wenn eine eige­ne Kind­heit nicht erfah­ren wer­den konn­te, son­dern sehr früh sehr viel für die Erzie­hung der Geschwis­ter oder Haus­halts­auf­ga­ben über­nom­men wer­den muss­te.

Vie­le mei­ner Klient:innen haben als Kin­der enorm gera­ckert, gekocht, geputzt oder waren sogar schon unter­neh­me­risch für die Eltern tätig. Die­se Men­schen sind sehr dis­zi­pli­niert und in ihrem Leben alles ande­re als faul gewe­sen. Aber sie haben sich in alle­dem erschöpft. Dem­nach kann man sagen, dass es sich auch wie um eine tie­fe Erschöp­fung han­delt, von all dem, was in frü­hen Jah­ren hat sein müs­sen. Das eige­ne Kind­sein wur­de

den grenz­über­schrei­ten­den Vor­stel­lun­gen von außen geop­fert. Es han­delt sich in der Fol­ge um eine Ver­wei­ge­rung, um ein „ich mag nicht mehr“, „ich mag nicht mehr so leben“.


Die Ursachen für das pathologische Horten liegen also entweder in einem frühen Gezwungen worden oder im frühen emotionalen Stich gelassen worden sein.


Schrö­ter: Ja. Und es gibt noch eine drit­te Bin­dungs­er­fah­rung, die ursäch­lich sein kann. Das ist die soge­nann­te Über­be­hü­tung.


Kin­der erfah­ren Impul­se, etwas ent­de­cken und aus­pro­bie­ren zu wol­len. Die Eltern sagen in dem Fall aber, gut gemeint, „das über­neh­men wir für dich, das kön­nen wir viel bes­ser! “. Zum Bei­spiel, wenn das Kind beim Backen mit­hel­fen möch­te. Das wird nicht zuge­las­sen, weil dann alles ver­sprit­zen und schmut­zig wer­den wür­de. Oder, ein Kind sieht, wie ein ande­res Kind mit Stütz­rä­dern Fahr­rad fah­ren lernt und möch­te das unbe­dingt auch. Die Eltern jedoch sind zu besorgt, dass sich das Kind ver­let­zen könn­te und las­sen es daher nicht zu.


Welche Bedeutung oder Funktion hat nun das Pathologische Horten für den Menschen?

 

Schrö­ter: Die Welt der Din­ge hat ver­schie­de­ne Funk­tio­nen. Zum einen sind sie eine Iden­ti­täts­stüt­ze. Denn es han­delt sich um Sachen, die sie aus­ma­chen, die sie inter­es­siert und die sie mögen, die sie aber in der Regel nicht ins eige­ne Leben inte­grie­ren kön­nen. All das ist in der Woh­nung gesta­pelt und lebt als „Zeit­zeu­ge“ in die­sen Wohn­räu­men. Die Din­ge bezeu­gen also, wer ich anschei­nend bin, weil die­se Hin­füh­rung über das Eltern­haus nicht gelun­gen ist. Jetzt sehen sie jeden Tag die­se vie­len Sachen und erken­nen sich dar­in. Sie konn­ten es noch nicht inte­grie­ren, wes­halb davon auch nichts gehen darf. Denn, wenn da etwas weg gehen wür­de, dann wäre es letzt­end­lich so, als wür­de es den Men­schen selbst nicht mehr geben.

Zum ande­ren sind die Din­ge auch Bezie­hungs­stell­ver­tre­ter. Es gab in ihrem Auf­wach­sen wenig siche­re, lie­be­vol­le und zuge­wand­te Men­schen. Es fehl­ten Kör­per­be­rüh­run­gen. Je enger Wohn­räu­me sind, je mehr kön­nen die Men­schen nun unbe­wusst spü­ren, dass dort“ jemand, etwas ist“. Sie kön­nen ihren Kör­per füh­len und wahr­neh­men. Sie gelan­gen über die Sta­pel­bil­dung die Erkennt­nis „mich gibt es“. Denn Betrof­fe­ne haben typi­scher­wei­se das Gefühl, dass sie „nicht vor­kom­men“. Ihr inne­res Erle­ben ist bei­na­he so, als wür­de es sie nicht geben.

Das Vermüllungssyndrom ist aber etwas anderes, betonen Sie. Inwiefern?


Schrö­ter: Das Ver­mül­lungs­syn­drom wird prin­zi­pi­ell durch Erkran­kun­gen aus­ge­löst wie: Sucht­er­kran­kun­gen aller Art, psych­ia­tri­schen Krank­heits­bil­dern, kör­per­li­che Ursa­chen, sowie hirn­or­ga­ni­sche Psy­cho­syn­dro­me. Das heißt es gibt sehr viel­fäl­ti­ge Ursa­chen die, oft nicht dia­gnos­ti­ziert, zugrun­de lie­gen und die Wahr­neh­mung der Men­schen ver­än­dert.


Welche Unterschiede gibt es in Therapie bei Patient:innen mit pathologischem Horten gegenüber dem Vermüllungssyndrom? Was müssen Fachkräfte in der Arbeit mit Betroffenen beachten?


Schrö­ter: Bei Patho­lo­gi­schem Hor­ten habe ich eine The­ra­pie­form ent­wi­ckelt, die da heißt: iden­ti­täts­bil­den­de, inte­gra­ti­ve Mes­sie-The­ra­pie. Hier­bei ist das Ziel, Men­schen mit ihrer eins­ti­gen im hohen Aus­maß ver­dräng­ten frü­hen Bin­dungs­er­fah­rung in Kon­takt zu brin­gen und sie zur Sym­ptom­bil­dung im Wohn­raum zugäng­lich zu machen. Ziel ist dabei über die eige­nen Prä­gungs­er­fah­run­gen hin­aus­zu­wach­sen und in eine selbst­be­stimm­tes

Leben zu gelan­gen. Der Wohn­raum ist zu ver­ste­hen als soge­nann­ter „ Wund- Raum“ in dem sich unge­leb­tes Leben befin­den, Träu­me, Wün­sche die noch nicht den Weg zu die­sen Men­schen selbst gefun­den zu haben.


Für die Wohn­raum­be­glei­tung habe ich über die Jah­re die Mes­sie-Fach­kraft-Aus­bil­dung nach Vero­ni­ka Schrö­ter® ent­wi­ckelt. Die­se ist für Men­schen, die mit hil­fe­su­chen­den Betrof­fe­nen kon­fron­tiert sind, die nie­man­den mehr ein­la­den kön­nen. Es geht dar­um, gemein­sam mit ihnen zu inte­grie­ren, was sie in ihrem Leben auf­ge­sta­pelt

haben. Was möch­ten sie von ihrem Leben von die­sen Din­gen, die dort über­all unbe­ant­wor­tet lie­gen? Das kann zum

Bei­spiel aber auch bedeu­ten, zusam­men wie­der einen klei­nen Platz im Wohn­raum zu schaf­fen, sodass viel­leicht mal wie­der jemand zu Besuch kom­men kann.


Die The­ra­pie beim Ver­mül­lungg­s­syn­drom ori­en­tiert sich an der zugrun­de lie­gen­den Dia­gno­se, die in der Regel Aus­ma­ße im Wohn­raum ange­nom­men hat, wel­che eine Gefähr­dung für den Erhalt der Woh­nung zur Fol­ge hat. Hier braucht es ein sehr gutes abge­stimm­tes kon­zep­tio­nel­les Vor­ge­hen. Vor allem auf der Grund­la­ge auf der von Selbst,- und Fremd­ge­fähr­dung. Hier muss auch die Woh­nung geklärt wer­den und es kann bis hin zu einer Ent­rüm­pe­lung gehen, weil es zum Bei­spiel Unge­zie­fer gibt.


In der Regel sind da auch Sucht­er­kran­kun­gen, psy­chisch-psych­ia­tri­sche Krank­heits­bil­der oder auch kör­per­li­che Erkran­kun­gen bis hin zu hirn­or­ga­ni­schen Krank­heits­bil­dern wie zum Bei­spiel Demenz und Alz­hei­mer. Das muss man zunächst ein­mal her­aus­fin­den. Hier benö­ti­gen Fach­kräf­te sehr viel Exper­ti­se im recht­li­chen Sinn, im Umgang mit diver­sen Krank­heits­bil­dern, in Koope­ra­tio­nen mit z. B Pfleg­diens­te, Sozi­al­psych­ia­tri­sche Diens­te, Ärz­te usw.


Hier braucht es ein klar defi­nier­tes und erar­bei­tets Kon­zept das von allen Mitarbeiter:innen auf stan­dar­di­sier­ter Ebe­ne getra­gen wird. Das ver­mit­telt Klient:innen Klar­heit und Ori­en­tie­rung. Wie das alles zu gesche­hen hat, auch bei vor­der­grün­dig unein­sich­ti­gen Men­schen, das alles will gelernt sein.


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Das Inter­view mit Vero­ni­ka Schrö­ter (Web­sei­te) führ­te Julia Mann (Pari­tä­ti­sche Aka­de­mie Ber­lin)

In unse­rem nächs­ten Arti­kel zum Mes­sie-Syn­drom wer­den wir auf den drit­ten Aus­prä­gungs­ty­pus, dem „Ver­wahr­lo­sungs­syn­drom“, ein­ge­hen. Die­ser wird in Kür­ze in unse­rem Online-Maga­zin erschei­nen.

Titel­bild: Can­va

Das Mes­sie-Syn­drom. Umgang mit Men­schen, die dau­er­haft im Cha­os leben.

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