Messie-Syndrom – Pathologisches Horten ist nicht gleich Vermüllung
In diesem Interview-Beitrag geht es um zwei von drei Ausprägungsformen des Messie-Syndroms: Das pathologische Horten und das Vermüllungssyndrom. Sie unterscheiden sich in Ursachen, Symptomen und Behandlung. In unserem letzten Beitrag sind wir auf die Definition des Messie-Syndroms als Überbegriff eingegangen. Lesen Sie den Artikel hier.
Veronika Schröter forscht und arbeitet seit 23 Jahren zum Messie-Syndrom. Sie ist Gründerin und Leiterin des Messie-Kompetenz-Zentrums in Stuttgart und bildet bundesweit Fachkräfte und Einrichtungen für die Arbeit mit Betroffenen aus. Erfahren hier Sie mehr über die Fortbildung.
Teil 2: Pathologische Horten vs. Vermüllungssyndrom
Frau Schröter, warum ist es wichtig, das Pathologische Horten von anderen Ausprägungstypologien zu unterscheiden?
Schröter: Weil dieses Krankheitsbild nichts mit den üblichen Bildern wie beim „Vermüllungssyndrom“ zu tun hat. Das pathologische Horten ist ein eigeständiges Krankheitsbild. Das heißt es braucht eine völlig andere Vorgehensweise und Begleitung und Therapie.
In den Räumen der Betroffenen ist es trocken, es ist keinerlei Ungeziefer vorzufinden und die Bausubstanz ist nicht beschädigt. Kennzeichnend ist eine erhebliche Anhäufung von Gegenständen, die unter keinen Umständen losgelassen werden können. Diese hat Ausprägungstypologie eine vollständig andere Ursachenherkunft als die anderen Formen.
Was sind die Ursachen des pathologischen Hortens?
Schröter: Es wird in den Zusammenhang mit einer frühen Bindungstraumafolgestörung gebracht, die den ersten drei Lebensjahren zugeordnet wird. Auf über 90% der Betroffenen handelt es sich dabei um eine Art frühes „Gezwungen worden sein“. Als Kinder haben Betroffene nicht die Erfahrung gemacht, einen klaren Raum für den eigenen Willen, den eigenen Bedürfnissen oder Wünschen zugesprochen bekommen zu haben.
Dabei wollen Kinder natürlicherweise entdecken und ausprobieren. Sie sind ausgesprochen neugierig und darin sollten sie bestärkt werden. Sie sollen auch geführt und, wie im Beispiel der heißen Herdplatte, vor sich selbst bewahrt werden. Typischerweise wurden Menschen, die vom pathologischen Horten betroffen sind , von ihren Eltern in extremer Form fremdbestimmt. Der Wille musste den Vorstellungen der Eltern, wie das Kind zu sein hat, untergeordnet werden. Wir sprechen hier von sehr rigiden und autoritären Erziehungsformen bis hin zu emotionalem Missbrauch der Eltern.
Hinweis: Im folgenden Abschnitt werden Beispiele für subtile und offensichtliche Übergriffe an Kindern aufgeführt.
Was bedeutet „Gezwungen worden sein“? Wenn es zum Beispiel hinsichtlich der Spielsachen keine Wahlmöglichkeiten gab oder überhaupt die eigenen Interessen, Impulse und Wünsche so gut wie keine Aufmerksamkeit bekommen haben. Zum Beispiel auch, wenn das Kind bestimmte Freunde einladen wollte und diese, weil es der Vorstellungen der Eltern nicht entsprach, nicht mehr kommen durften. Kinder mit pathologischem Horten waren erheblichen Zwangsstrukturen ausgesetzt. Enorme Konsequenzen sind auch hinsichtlich der Sauberkeitserziehung zu sehen. Das konnte so weit gehen, dass ein Kind an den Topf festgebunden wurde oder nachts aus dem Schlaf gerissen wurde, um den Ansprüchen der Eltern gerecht zu werden.
Wie wirkt sich das im Erwachsenenalter aus?
Schröter: Das eigene Dasein konnte sich dadurch nicht entfalten. Betroffene sollten sich in ihren Bedürfnissen und Interessen so entwickeln, wie es den Vorstellungen der Eltern entsprach. Damit wird das eigene Lebensgefühl erheblich unterbunden, bis hin zu Einschränkungen für das eigene Körpergefühl und den eigenen Biorhythmus.
Die Menschen werden groß und sind in eine Überangepasstheit geraten. Über das lieb und brav sein, sind sie zu enormen Leistungen fähig und erlangen darüber Anerkennung und Akzeptanz. Dies erklärt warum dieses Klientel in beruflich hohen Stellungen und Positionen vorzufinden sind.
Sich diesbezüglich einseitig entwickelnd konnten sie keine Antworten auf die Fragen „Wer bin ich?“ und „Was mag ich eigentlich?“ herausbilden und ins Leben bringen. Ich stoße bei diesen Klient:innen auf vielschichtige Interessen.
Diese wurden aber nicht gefördert, geführt und vernünftig kanalisiert. Später merken sie häufig, dass sie sich beruflich vergaloppiert haben. Viele haben sehr viel gearbeitet, sind auch oft erfolgreich, aber sie haben sich, wie schon gesagt einseitig entwickelt. Die Seele liegt brach. Deshalb habe ich übrigens auch noch Berufscoaching dazu gelernt. Um Menschen zu einer Ihnen gemäßen Berufsrichtung zu verhelfen.
Gibt es weitere Ursachen?
Schröter: Ja, das ist das ein emotional sehr früh im Stich gelassen worden sein. Wenn Eltern zum Beispiel nicht wirklich erfahrbar waren. Oder aber, wenn die Eltern selbst psychisch erkrankt waren. Alleingelassene sich selbst überlassene Kinder. Es entstand ein emotional kaltes Umfeld, in dem wenig bis gar nicht gehalten und geröstet worden ist.
Ein anderes Beispiel hierfür ist auch, wenn Kinder von den Eltern instrumentalisiert wurden. Anstatt für das Kind und seine Entwicklung offen zu sein, wurden sie mit den Leid der Eltern belastet. Ein emotionales im Stich gelassen sein entsteht aber auch, wenn eine eigene Kindheit nicht erfahren werden konnte, sondern sehr früh sehr viel für die Erziehung der Geschwister oder Haushaltsaufgaben übernommen werden musste.
Viele meiner Klient:innen haben als Kinder enorm gerackert, gekocht, geputzt oder waren sogar schon unternehmerisch für die Eltern tätig. Diese Menschen sind sehr diszipliniert und in ihrem Leben alles andere als faul gewesen. Aber sie haben sich in alledem erschöpft. Demnach kann man sagen, dass es sich auch wie um eine tiefe Erschöpfung handelt, von all dem, was in frühen Jahren hat sein müssen. Das eigene Kindsein wurde
den grenzüberschreitenden Vorstellungen von außen geopfert. Es handelt sich in der Folge um eine Verweigerung, um ein „ich mag nicht mehr“, „ich mag nicht mehr so leben“.
Die Ursachen für das pathologische Horten liegen also entweder in einem frühen Gezwungen worden oder im frühen emotionalen Stich gelassen worden sein.
Schröter: Ja. Und es gibt noch eine dritte Bindungserfahrung, die ursächlich sein kann. Das ist die sogenannte Überbehütung.
Kinder erfahren Impulse, etwas entdecken und ausprobieren zu wollen. Die Eltern sagen in dem Fall aber, gut gemeint, „das übernehmen wir für dich, das können wir viel besser! “. Zum Beispiel, wenn das Kind beim Backen mithelfen möchte. Das wird nicht zugelassen, weil dann alles verspritzen und schmutzig werden würde. Oder, ein Kind sieht, wie ein anderes Kind mit Stützrädern Fahrrad fahren lernt und möchte das unbedingt auch. Die Eltern jedoch sind zu besorgt, dass sich das Kind verletzen könnte und lassen es daher nicht zu.
Welche Bedeutung oder Funktion hat nun das Pathologische Horten für den Menschen?
Schröter: Die Welt der Dinge hat verschiedene Funktionen. Zum einen sind sie eine Identitätsstütze. Denn es handelt sich um Sachen, die sie ausmachen, die sie interessiert und die sie mögen, die sie aber in der Regel nicht ins eigene Leben integrieren können. All das ist in der Wohnung gestapelt und lebt als „Zeitzeuge“ in diesen Wohnräumen. Die Dinge bezeugen also, wer ich anscheinend bin, weil diese Hinführung über das Elternhaus nicht gelungen ist. Jetzt sehen sie jeden Tag diese vielen Sachen und erkennen sich darin. Sie konnten es noch nicht integrieren, weshalb davon auch nichts gehen darf. Denn, wenn da etwas weg gehen würde, dann wäre es letztendlich so, als würde es den Menschen selbst nicht mehr geben.
Zum anderen sind die Dinge auch Beziehungsstellvertreter. Es gab in ihrem Aufwachsen wenig sichere, liebevolle und zugewandte Menschen. Es fehlten Körperberührungen. Je enger Wohnräume sind, je mehr können die Menschen nun unbewusst spüren, dass dort“ jemand, etwas ist“. Sie können ihren Körper fühlen und wahrnehmen. Sie gelangen über die Stapelbildung die Erkenntnis „mich gibt es“. Denn Betroffene haben typischerweise das Gefühl, dass sie „nicht vorkommen“. Ihr inneres Erleben ist beinahe so, als würde es sie nicht geben.
Das Vermüllungssyndrom ist aber etwas anderes, betonen Sie. Inwiefern?
Schröter: Das Vermüllungssyndrom wird prinzipiell durch Erkrankungen ausgelöst wie: Suchterkrankungen aller Art, psychiatrischen Krankheitsbildern, körperliche Ursachen, sowie hirnorganische Psychosyndrome. Das heißt es gibt sehr vielfältige Ursachen die, oft nicht diagnostiziert, zugrunde liegen und die Wahrnehmung der Menschen verändert.
Welche Unterschiede gibt es in Therapie bei Patient:innen mit pathologischem Horten gegenüber dem Vermüllungssyndrom? Was müssen Fachkräfte in der Arbeit mit Betroffenen beachten?
Schröter: Bei Pathologischem Horten habe ich eine Therapieform entwickelt, die da heißt: identitätsbildende, integrative Messie-Therapie. Hierbei ist das Ziel, Menschen mit ihrer einstigen im hohen Ausmaß verdrängten frühen Bindungserfahrung in Kontakt zu bringen und sie zur Symptombildung im Wohnraum zugänglich zu machen. Ziel ist dabei über die eigenen Prägungserfahrungen hinauszuwachsen und in eine selbstbestimmtes
Leben zu gelangen. Der Wohnraum ist zu verstehen als sogenannter „ Wund- Raum“ in dem sich ungelebtes Leben befinden, Träume, Wünsche die noch nicht den Weg zu diesen Menschen selbst gefunden zu haben.
Für die Wohnraumbegleitung habe ich über die Jahre die Messie-Fachkraft-Ausbildung nach Veronika Schröter® entwickelt. Diese ist für Menschen, die mit hilfesuchenden Betroffenen konfrontiert sind, die niemanden mehr einladen können. Es geht darum, gemeinsam mit ihnen zu integrieren, was sie in ihrem Leben aufgestapelt
haben. Was möchten sie von ihrem Leben von diesen Dingen, die dort überall unbeantwortet liegen? Das kann zum
Beispiel aber auch bedeuten, zusammen wieder einen kleinen Platz im Wohnraum zu schaffen, sodass vielleicht mal wieder jemand zu Besuch kommen kann.
Die Therapie beim Vermüllunggssyndrom orientiert sich an der zugrunde liegenden Diagnose, die in der Regel Ausmaße im Wohnraum angenommen hat, welche eine Gefährdung für den Erhalt der Wohnung zur Folge hat. Hier braucht es ein sehr gutes abgestimmtes konzeptionelles Vorgehen. Vor allem auf der Grundlage auf der von Selbst,- und Fremdgefährdung. Hier muss auch die Wohnung geklärt werden und es kann bis hin zu einer Entrümpelung gehen, weil es zum Beispiel Ungeziefer gibt.
In der Regel sind da auch Suchterkrankungen, psychisch-psychiatrische Krankheitsbilder oder auch körperliche Erkrankungen bis hin zu hirnorganischen Krankheitsbildern wie zum Beispiel Demenz und Alzheimer. Das muss man zunächst einmal herausfinden. Hier benötigen Fachkräfte sehr viel Expertise im rechtlichen Sinn, im Umgang mit diversen Krankheitsbildern, in Kooperationen mit z. B Pflegdienste, Sozialpsychiatrische Dienste, Ärzte usw.
Hier braucht es ein klar definiertes und erarbeitets Konzept das von allen Mitarbeiter:innen auf standardisierter Ebene getragen wird. Das vermittelt Klient:innen Klarheit und Orientierung. Wie das alles zu geschehen hat, auch bei vordergründig uneinsichtigen Menschen, das alles will gelernt sein.
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Das Interview mit Veronika Schröter (Webseite) führte Julia Mann (Paritätische Akademie Berlin)
In unserem nächsten Artikel zum Messie-Syndrom werden wir auf den dritten Ausprägungstypus, dem „Verwahrlosungssyndrom“, eingehen. Dieser wird in Kürze in unserem Online-Magazin erscheinen.
Titelbild: Canva
Das Messie-Syndrom. Umgang mit Menschen, die dauerhaft im Chaos leben.
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