Die Paradoxie in Veränderungsprozessen
Ein Gastbeitrag unserer Dozentin Marion Schenk
Organisationen aktiv zu verändern – ist das nicht eigentlich eine Illusion? Diese Frage stellt sich, wenn man ein systemisches Verständnis von Organisationen hat und Selbststeuerung als grundlegende Prozesse akzeptiert. Dennoch stehen die speziellen Anforderungen, die an Führungskräfte als Gestaltende im System gestellt werden, immer wieder im Fokus.
Wer leitet den Wandel in Organisationen ein bzw. unterstützt ihn? Kann das überhaupt eine (Führungs-) Person sein? Niklas Luhmann sagt dazu, dass Entscheidungen in Organisationen immer Personen zugeschrieben werden müssen[1]. Das entspricht dem allgemeinen Verständnis von Führung und Entscheidungsfindung im Arbeitsleben. Vermutlich, weil die Vorstellung, dass sich Organisationen über Entscheidungen reproduzieren, die Entscheidungsprämissen in Systemen zentral sind und das unabhängig von Personen, noch immer stark irritiert. Deshalb brauchen wir die Idee der wirkmächtigen Führung. Die Frage, was sie bewirkt und wie sie das macht, ist damit aber noch nicht beantwortet.
Führungstheorien und ‑praktiken beschäftigen uns besonders, wenn wir uns mit Wandel und Organisationsveränderung auseinandersetzen. Wie muss Führung erscheinen, um die Prozesse der Selbststeuerung hilfreich zu unterstützen oder die Menschen mitzunehmen und dabei für ein angemessene Verhältnis an Beweglichkeit und Robustheit in der Organisation zu sorgen?
Drei Konzepte der Führung scheinen da interessant zu sein: zum einen die Idee der postheroischen Führung, wie sie Dirk Baecker [2] beschreibt zum anderen das Konzept der lateralen Führung[3]. Ein dritter Ansatz ist das stark an die Persönlichkeit der Führenden gebundene Konstrukt der transformationalen Führungskultur, das in der Praxis derzeit regen Zuspruch findet.
Wir beleuchten hier die Aspekte der Konzepte, die in Veränderungsprozessen hilfreich sein können. Welche Ansätze können Selbststeuerungsprozesse unterstützen und zugleich Widerstände minimieren? Wir gehen davon aus, dass bei Berücksichtigung dieser beiden Themen durch Führung die Chancen für eine erfolgreiche Veränderung in Organisationen erhöht wird.
[1] Niklas Luhmann 2011
[2] Dirk Baecker 2015
[3] Stefan Kühl 2016
Postheroische Führung vs. Heroische Führung
Führung bedeutet Verantwortungsübernahme für die Selbststeuerung des Systems. Diese Paradoxie besagt, dass Systeme eine eigene Logik haben, sich selbst steuern und Führung keinen trivial kausalen Einfluss auf das Organisationsgeschehen hat. Dennoch ist es nicht irrelevant, wer führt und wie er oder sie es tut.
Baecker grenzt die heroische Führung als eine eher historische von der heute zeitgemäßeren postheroischen Führung ab.
Heroische Führung hatte ein klares Ziel oder eine Idee vor Augen, startete einen Angriff mit Sieg oder Untergang und kannte nur einen Helden. „Unterwirf die Welt – oder verschwinde für immer“. Scheitern hatte, im Auge des Heroen, seine Ursache meist in der ignoranten Umwelt. Diese Form der Führung spart sich die Mühe, immer wieder einen Abgleich zwischen der Organisation und der Umwelt zu machen. Sie fragt nicht danach, wie sich die Welt verändert und momentan zeigt. Sie hat nur ihre eine Wirklichkeit.
Das Modell passt nicht mehr so richtig in unsere heutige, komplex organisierte Gesellschaft.
Postheroische Führung erobert die Welt nicht, sondern steht mit ihr in Beziehung und Wechselwirkung, sie bindet ein, sie informiert und fragt nach. Interventionen sind nicht eindimensional, sondern werden in ihren oft widersprüchlichen Auswirkungen betrachtet.
Die Problemlösekompetenz liegt in der Organisation bei allen und nicht nur an der Spitze der Hierarchie. Man wägt ab, unter welchen Bedingungen man gute Erfahrungen gemacht hat, vergleicht Umwelt und interne Prozesse und trifft häufig vorläufige Entscheidungen. Ein Vorgehen, das in Veränderungsprozessen meist die Zustimmung der Geführten findet. Denn jedwede Veränderung führt bei einer großen Zahl der Mitarbeitenden dazu, dass sie ihre Rolle anpassen und sich neu verorten müssen. Das fragile Gleichgewicht zwischen Macht und Einfluss sowie Ohnmacht und der eigenen Bedeutsamkeit gerät bei allen in Bewegung. Das ist für viele Organisationsmitglieder ein – wenn auch nicht offen genannter – Grund, sich Veränderungen zu widersetzen.
Laterale Führung
Das Konzept der lateralen Führung trägt den Erfahrungen Rechnung, dass sich jenseits hierarchischer Strukturen in Unternehmen auch vielfach „zur Seite gerichtete“ Führungsprozesse beobachten lassen, fernab der klassischen Hierarchie. Diese mit zu berücksichtigen und gegebenenfalls zu nutzen kann in bewegten Zeiten sinnvoll sein. Laterale Führung zieht sich nicht auf rein hierarchische Prozesse zurück, sondern sucht Prozesse der Verständigung anzuregen und zu leben, um gemeinschaftliche Sichtweisen zu entwickeln oder unterschiedliche Positionen zu verstehen.
Stefan Kühl [1] sieht wichtige Fähigkeiten von Führung in sich verändernden Umwelten darin, Kontingenz möglichst lange zu erhalten. Das bedeutet, Möglichkeiten zu erhalten und Dinge nicht zu schnell ein- oder auszugrenzen.
In der Praxis heißt das, Veränderungen und neue Strukturen zunächst als Erprobungsphase zu deklarieren, das heißt die Vorläufigkeit zu betonen. Das mindert Widerstand und es wird nicht alles zerredet, da nicht alle Alternativen sofort betrauert und beerdigt werden müssen.
Jede echte Veränderung ist immer nur EINE Entscheidung unter Unsicherheit. Niemand weiß mit hundertprozentiger Sicherheit, was „das Beste“ ist. Offenheit zu behalten und die Möglichkeit zur Korrektur mitzudenken, bedeutet nicht Führungsschwäche, sondern ist ein Kennzeichen kompetenter lateraler und/oder postheroischer Führung. Gemeinsames Erkunden, im Gegensatz zum schnellen Verkünden, ermöglicht es, Zukunft lange konstruktiv unbestimmt zu halten ohne dabei unnötige Unsicherheit zu erzeugen.
Wo die landläufige heroische Anmutung von Führung schon lange entschieden und entschlossen aufgetreten wäre, um Sicherheit zu suggerieren, erhält die laterale Führung ihr „Signum der Vorläufigkeit“ [2]. Für sie ist das Kunst, Kompetenz und Qualitätsmerkmal von Führung im Veränderungsprozess.
Der „dosierte Glaube an Helden“ (Baecker) scheint zwar punktuell wichtig zu sein, um kurzfristig Begeisterung zu erwecken und einige Mitstreitende zu finden. Diese „Fallweise vorkommenden Heroismen“, die Baecker als Opium fürs Volk bezeichnet, stehen aber nur scheinbar im Widerspruch zur postheroischen und lateralen Führung.
Kluge, flexible Führung weiß, wann es auf die postheroische komplexe Intelligenz ankommt und wann man heroisch erscheinen muss, um zum Beispiel Entscheidungen sichtbar zu treffen, bzw. wirkungsvoll zu kommunizieren. Ebenso weiß sie das Zusammenspiel von Macht, Vertrauen und Verständnis zu gestalten. Dem Mechanismus, der nach Kühl die Stärke lateraler Führung ausmacht.
In sich verändernden Konstellationen und Strukturen müssen sich alle Beteiligten die Frage stellen: Was heißt die Veränderung für mich? Wem kann und will ich vertrauen? Wie viel Macht habe ich noch? Hat jemand Macht über mich? In welche Verständigungs- beziehungsweise Kommunikationsprozesse werde ich einbezogen? Die Bewertung dieser Fragen entscheidet mit darüber, wer zum Widerständler und wer zum Unterstützer der Veränderung wird.
Das führt uns dann wieder zur Idee der Vorläufigkeit. Kann Führung vermitteln, dass nicht alles in Stein gemeißelt und für die Ewigkeit ist, fällt es leichter, sich diesen Themen mit weniger Verbissenheit, Stress und Widerstand zu widmen. Es entsteht wieder Lust, sich an diesem Spiel konstruktiv zu beteiligen.
[1] Kühl 2016
[2] Kühl 2016
Transformationale Führungskultur
Ein drittes Modell – vielleicht auch ein Mythos – ist die transformationale Führungskultur. Sie beinhaltet sowohl die Idee des Charismas, wie sie auch bei den Helden zu finden ist, als auch das Prinzip der individuellen Förderung und Nutzung der Beiträge aller an der Organisation Beteiligten. Die Beziehungen der Führungskraft zu den Mitarbeitenden steht im Mittelpunkt.
Dynamik in Organisation kann ich als Führung nur nutzen, wenn ich als Person mit anderen Personen in Beziehung treten kann. Das Verständnis für die Motivlagen und Besonderheiten der Mitarbeitenden wird eine wesentliche Kompetenz der Führungskraft.
Luhmann sagt dazu auch: „Kein Mensch handelt ohne selbst dabei zu sein, er bringt sich selbst, seine Persönlichkeit, mit an die Arbeitsstelle. Die Organisation fordert ihm jedoch nur spezifische Leistungen ab. Seine Gefühle und seine Selbstdarstellungsinteressen werden dabei kaum beansprucht. Sie lungern während der Arbeit funktionslos herum und stiften Schaden, wenn sie nicht unter Kontrolle gehalten werden.“ [1]
Die Basiselemente einer transformationalen Führungskultur sind die sogenannten vier I´s. Inspiration, individuelle Behandlung, intellektuelle Stimulierung der Mitarbeitenden und die als Modell wirkende Persönlichkeit der Führung (idealized personality).
Dies beinhaltet, Mitarbeiter*innen zu inspirieren und zu motivieren, sie nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen individuell zu führen, alte Denkmuster aufzubrechen und zu stimulieren, sowie als integres Modell Enthusiasmus zu vermitteln und als Identifikationsfigur zur Verfügung zu stehen. Hier finden sich viele Elemente aus lateraler Führung und postheroischem Management wieder, ebenso wie das zu Beginn formulierte Prinzip der Verantwortungsübernahme für die Selbststeuerung des Systems.
Zugleich erscheint das Konzept jedoch in einem personifiziertem Gewand. Man spricht zwar von transformationaler Führungskultur, denkt dabei aber meist an Persönlichkeiten, die diese beispielhaft verkörpern. Es lauert die Gefahr, dass sie wieder als heldenhafte Lichtgestalten fungieren, zumal die Anforderung an das, was die Führungskraft hierbei zu leisten hat, immens sind.
Nicht mehr Heldentum im Sinne der Heroen, sondern „grandios charismatische und allumfassende Persönlichkeiten“, die Mitarbeitende fördern, treten als neue Bilder auf.
Oft müssen wir uns eingestehen, in schnelllebigen und unberechenbaren Zeiten als Einzelpersonen nur geringe Einflussmöglichkeiten zu haben. Die Paradoxie von Führung besteht hier darin, mit transformationaler Haltung und als Persönlichkeit mit Charisma trotz „struktureller Ohnmacht“ zu wirken.Gleichzeitig stärkt diese unbequeme Erfahrung den Mythos um Personen, die scheinbar einen Unterschied im System machen können.
Gemeinsam ist allen drei Konzepten, dass die Mitarbeitenden eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Organisation und Veränderungsprozessen spielen und nicht eine einzige Person die Unternehmensgeschicke lenkt. Das Zusammenspiel vieler trägt dazu bei, die Organisation je nach Bedarf zu verändern, zu stabilisieren oder zu entwickeln. Eine Idee, die der Selbststeuerung und der Vorstellung von Organisation als Spiel mit Spielregeln und Mustern schon viel näher kommt.Führung kann in ihren eher indirekten Formen dazu einen guten Beitrag leisten und so die Paradoxie der Wirkung im Kontext von Selbststeuerung aufrecht erhalten.
Denn wir brauchen im Luhmannschen Sinne eben die Personen, denen wir Entscheidungen zurechnen können!
[1] Niklas Luhmann: 2016
Zur Autorin: Marion Schenk, Dipl. Psych. Dipl. Kffr. arbeitet in Berlin als selbstständige Organisationsberaterin und ist Gesellschafterin des SIFB, Systemisches Institut für Führung und Beratung.
Literatur zum Weiterlesen:
Dirk Baecker: Postheroische Führung: Vom Rechnen mit Komplexität. (essentials)Taschenbuch 2015
Stefan Kühl: Laterales Führen: Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung. Taschenbuch 2016
Niklas Luhmann: Der neue Chef. Gebundene Ausgabe 2016 neu herausgegeben von Jürgen Kaube.
Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften) Gebundene Ausgabe 2011
Foto: © Michael Jungblut / michaeljungblut.com
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