ein Gastbeitrag von Dr. Holger Wellmann
Das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) hat in den letzten Jahren in vielen Branchen und Betrieben zunehmend an Akzeptanz gewonnen. Mehr noch: Es ist Ausdruck einer gelebten Unternehmenskultur und
wirkt sich nicht nur positiv auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten aus, sondern ist auch ein „Aushängeschild“ für viele Betriebe. Sie werben z.B. mit ihrem BGM, wenn es um die Gewinnung und Bindung von
Fachkräften geht.
Allerdings ist BGM bei weitem noch keine Selbstverständlichkeit. Unwissenheit über die Inhalte, die konkrete Umsetzung und die vielfältigen Wirkungen des BGM spielen dabei häufig eine Rolle. Hinzu kommen oft fehlende zeitliche Ressourcen – aber auch die Frage der Haltung, wenn es um das Thema Gesundheit geht: Ist sie „Privatsache“ – oder inwieweit sehen es die EntscheidungsträgerInnen von Organisationen als gewinnbringend an,
über den Arbeits- und Gesundheitsschutz hinaus in die Gesundheitsförderung der Mitarbeitenden zu investieren? Schließlich existieren noch immer falsche Vorstellungen über das BGM: Es ginge insbesondere um die Umsetzung von Maßnahmen, die um das operative Tagesgeschäft herum organisiert werden müssten. Und gerade hier liegt häufig ein Denkfehler, denn der Kern eines qualitativ hochwertigen BGM sollte das Herbeiführen von gesunden Arbeitsbedingungen und die Stärkung von Ressourcen bei den Beschäftigten sein.
Die herausfordernde Arbeitssituation in der Pflegebranche ist seit langem bekannt. Sie ist geprägt von hohen körperlichen und psychischen Belastungen. Die Arbeitsverdichtung hat gerade in den letzten zwei Jahren durch die Corona-Situation weiter zugenommen. Oftmals ist die Belastungsgrenze bereits überschritten, wozu u.a. die zeitgleiche Erledigung mehrerer Aufgaben (Multitasking), der Schichtdienst und immer wieder auch aggressive Patient:innen sowie das permanente Erfordernis von Emotionsarbeit beitragen. Dies schlägt sich einerseits nieder in einem Krankheitsgeschehen, das vor allem durch Muskel- und Skeletterkrankungen, aber auch durch depressive Episoden und das Burnout-Syndrom geprägt ist. Andererseits gehen Pflegekräfte trotz Krankheit überdurchschnittlich häufig trotzdem zur Arbeit. Zudem sind die Rahmenbedingungen in der Pflege ungünstig. Die Vereinbarung der Arbeitszeiten mit den persönlichen Bedürfnissen ist häufig mühsam, die Entlohnung im
Pflegeberuf eher gering und die Entwicklungsmöglichkeiten für die persönliche Laufbahngestaltung eingeschränkt. Hinzu kommt – und dies dürfte für das Sinnerleben vieler Pflegekräfte neben den Arbeitsbedingungen ein entscheidender Punkt sein – die geringe gesellschaftliche Wertschätzung bzw. das Imageproblem des Pflegeberufs. Es kann bei all diesen Faktoren demnach nicht verwundern, dass die Verweildauer gerade in der Altenpflege kürzer als in vielen anderen Berufen ist.
Und jetzt noch Corona! Ist die Pandemie das Damoklesschwert für das BGM in der Pflege? Sie darf es nicht sein! Als
Begründung darf die Geschichte des Holzfällers herangezogen werden, der den Auftrag bekommt Bäume zu fällen. Anfangs gelingt ihm dies, aber mit der Zeit wird die Säge immer stumpfer und die Arbeit daher immer beschwerlicher. Er schafft irgendwann die geforderte Menge nicht mehr – Frust und Überstunden häufen sich an. Da geben ihm vorbeiziehende Wandersleute einen „heißen Tipp“: „Sie müssen mal wieder Ihre Säge schärfen!“ Aber der Holzfäller schüttelt den Kopf und antwortet: „Ich habe keine Zeit die Säge zu schärfen. Ich muss doch den ganzen Tag Bäume fällen!“
Die Analogie ist offensichtlich. Wo im Pflegealltag bei ohnehin schon begrenzten Personalkapazitäten Zeit für
Maßnahmen des BGM hernehmen? Dafür ist es wichtig zu wissen, dass der Ausgangspunkt für solche Maßnahme natürlich eine Bedarfsanalyse ist, um zielgerichtet vorzugehen. Und sicherlich müssen zu Beginn auch Strukturen und Prozesse des BGM in die Organisationsabläufe integriert werden. Dann jedoch gilt es möglichst niedrigschwellig die Aktivitäten in den Arbeitsalltag der Beschäftigten zu integrieren. Was das heißen kann, soll mit ein paar Beispielen verdeutlicht werden. Dabei wird eine Orientierung an dem sogenannten „biopsychosozialen
Modell von Gesundheit und Krankheit“ vorgenommen. Dieses geht davon aus, dass Krankheit als Störung der Interaktion von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren verstanden werden kann. Folglich werden bei allen gesundheitsförderlichen Maßnahmen nicht nur biologische Faktoren berücksichtigt, sondern auch psychologische und soziokulturelle Aspekte einbezogen.
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Hinsichtlich der körperlichen Anstrengungen kann z.B. das Augenmerk darauf gelegt werden, dass die Belastung individuell als angemessen empfunden wird, ohne dass dabei immer die gleichen Mitarbeitenden die „schweren Aufgaben“ erhalten. Kollegiale Hinweise auf ungünstige Körperhaltungen sensibilisieren und ergänzen die grundlegenden Unterweisungen, wie man mit der richtigen Haltung und passenden Bewegungsabläufen den Körper schonen kann. Arbeitsorganisatorisch erscheint es günstig, dass Pausen auch nach dem individuellen Bedarf genommen werden können und tatsächlich im Sinne der Erholung gestaltet werden. Die „Raucherpause“ mag zwar kurzfristig zum „Durchpusten“ geeignet sein, wird sich aber mittel- bis langfristig sicherlich nicht auf die körperliche Fitness positiv auswirken. Und natürlich sollte auch der Zeitdruck nicht der Nutzung von Hilfsmitteln und Hebehilfen entgegenstehen.
Für das psychische Wohlbefinden ist es wichtig, dass der einzelnen Pflegekraft immer wieder ihr Beitrag zum großen Ganzen bewusst (gemacht) wird. Damit verbunden ist die Wertschätzung der Person durch die Kolleginnen und Vorgesetzten oder ein konkretes Lob. Ein kurzes und ehrlich gemeintes „Ich danke dir, dass du bei uns auf Station so spontan ausgeholfen hast!“ kann schon viel bewirken und zeigt, dass eine solche Unterstützung keine Selbstverständlichkeit ist. Unterschiedlich ausgeprägt ist der Wunsch, immer wieder Neues bei der Arbeit hinzulernen zu können und sich einzelne Arbeitsabläufe möglichst selbst strukturieren zu können. Hier ist das Anmelden von Wünschen seitens der Pflegekräfte und das Fingerspitzengefühl der Vorgesetzten gefragt sowie ihr Interesse, sich mit den einzelnen Bedürfnissen und Stärken in ihrem Team auseinanderzusetzen. Die Teammitglieder werden es ihnen danken, wenn sie sich den Anforderungen ihrer Arbeit gewachsen fühlen.
Es ist aber nicht nur die Arbeit als solche, die für Motivation und Sinnstiftung sorgen kann. Im hektischen Pflegealltag kommt es immer wieder zu Konflikten. Das muss nicht weiter schlimm sein, wenn sie unter den Kolleginnen respektvoll und möglichst eigenständig oder auch mit Unterstützung anderer gelöst werden. Und natürlich kommt es dem Betriebsklima zugute, wenn gegenseitige Hilfe und Unterstützung stark ausgeprägt sind und die Bereitschaft vorhanden ist, Wissen zu teilen. Dabei sollte nicht vernachlässigt werden, bei Problemen zuerst selbst nach Lösungen zu suchen, bevor andere um Hilfe gebeten werden. Es gilt also beides miteinander zu verbinden: Das eigene Engagement bei Herausforderungen, aber auch die Gewissheit, sich auf die KollegInnen
verlassen zu können. So wachsen Teams zusammen – Kooperation und Vertrauen werden gelebt.
Die sinnvolle Kombination dieser Aspekte zeigt, dass BGM kein „add on“ ist – also kein Hinzufügen von Maßnahmen in den stressigen Pflegealltag. Vielmehr spielt es eine gewichtige Rolle, um den Herausforderungen in der Pflege zu begegnen und die Krankenstände und die Fluktuation so gering wie möglich zu halten. Überlegen Sie doch selbst einmal als Verantwortliche, wenn Sie die Wahl zwischen zwei grundsätzlich vergleichbaren Pflegeeinrichtungen
hätten – eine davon jedoch ein gutes BGM lebt: Für welche Einrichtung würden Sie sich entscheiden?
Auf dem Weg zum BGM werden Sie nicht allein gelassen. So stehen Ihnen z.B. die Sozialversicherungsträger mit Rat und Tat zu Seite. Nutzen Sie aber auch die neuen Angebote der Paritätischen Akademie Berlin.