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Hoch­sen­si­bi­li­tät im Berufs­all­tag und ihre Poten­zia­le im Arbeits­kon­text

März 2023 | Orga­ni­sa­ti­on & Ent­wick­lung

Hochsensibilität im Berufsalltag

Und ihre Potenziale im Arbeitskontext


Vom Gefühl, sich nicht zurecht­zu­fin­den und ein­fach nicht rein­zu­pas­sen, war das Ver­hält­nis zur Arbeits­welt von Mar­tin Nevoigt lan­ge Zeit geprägt. Sozia­le Inter­ak­tio­nen wie Small Talk am Mit­tags­tisch oder unaus­ge­spro­che­ne Kon­flik­te im Team laug­ten ihn oft aus. Außer­dem hat­te er nie Inter­es­se an der vor­herr­schen­den Ellen­bo­gen­men­ta­li­tät: Kon­kur­renz­den­ken, Sta­tus­sym­bo­le oder das ewi­ge Schnel­ler-Höher-Wei­ter. „Mich beweg­te vor allem der tie­fe­re Sinn hin­ter allem und wie ech­te Begeis­te­rung und inne­re Moti­va­ti­on dafür ent­fal­tet wer­den kann.“ erin­nert er sich. Wir haben ihm eini­ge Fra­gen zu sei­nem Wer­de­gang gestellt.

Mar­tin Nevoigt ist heu­te Geschäfts­füh­rer einer gemein­nüt­zi­gen Orga­ni­sa­ti­on und sys­te­mi­scher Coach im Bereich Hoch­sen­si­bi­li­tät, men­schen­zen­trier­tes Arbei­ten (New Work) und sen­si­bles bezie­hungs­wei­se empa­thi­sches Unter­neh­mer­tum. Er ist außer­dem als Dozent und Autor tätig. In sei­ner Arbeit geht es häu­fig um selbst­be­stimm­te Arbeits­struk­tu­ren und einen guten Umgang mit den eige­nen Res­sour­cen und Poten­zia­len.

Vor 10 Jah­ren begann er, sich ein­ge­hend mit sei­ner eige­nen Hoch­sen­si­bi­li­tät und neu­en Arbeits­an­sät­zen zu beschäf­tig­ten. Dann ergab vie­les plötz­lich Sinn. Er gewann Akzep­tanz für sich selbst. Dar­aus ent­stand die Kraft, sein Leben und Arbei­ten nach sei­nen Wer­ten und Bedürf­nis­sen zu gestal­ten.

Was bedeutet es, hochsensibel zu sein?

Nevoigts Klient:innen sind haupt­säch­lich Unternehmer:innen, Selb­stän­di­ge und Per­so­nen mit einer sehr aus­ge­präg­ten Empa­thie und Sen­si­bi­li­tät.

„Laut psy­cho­lo­gi­schen For­schun­gen sind etwa 15–20 Pro­zent der Bevöl­ke­rung hoch­sen­si­bel. Das bedeu­tet, dass ihr Ner­ven­sys­tem über die Sin­nes­or­ga­ne deut­lich mehr und fei­ner Rei­ze und Infor­ma­tio­nen auf­nimmt und die­se auch län­ger und inten­si­ver im Gehirn ver­ar­bei­tet als nor­mal­sen­si­ble Men­schen.“

In all­täg­li­chen Situa­tio­nen kann das ziem­lich her­aus­for­dernd sein. Die Reiz­über­flu­tung kann zu einer gro­ßen Erschöp­fung und schließ­lich einem sozia­len Rück­zug füh­ren. Auch die zwi­schen­mensch­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on kann mit­un­ter schwie­rig sein, weil die hoch­sen­si­ble Reiz­ver­ar­bei­tung häu­fig auf Details oder Nuan­cen fokus­siert. Das kann schnell zu Miss­ver­ständ-nis­sen füh­ren. Vie­le Hoch­sen­si­ble zwei­feln dann an sich und ihrer fei­nen Wahr­neh­mung. Sie den­ken oft, nicht „hart“ oder stark genug für eine Selb­stän­dig­keit oder Füh­rungs­po­si­ti­on zu sein. Doch die­sem Glau­bens­satz wider­spricht der erfah­re­ne Coach für hoch­sen­si­ble Per­so­nen (kurz: HSP).

Hochsensibilität – Laster oder Potenzial?

In der Hoch­sen­si­bi­li­tät ste­cken gro­ße Poten­zia­le, so der Exper­te. Zum Bei­spiel eine aus­ge­präg­te Gewis­sen­haft-igkeit, Detail­ver­liebt­heit und star­ke zwi­schen­mensch­li­che Kom­pe­ten­zen, wie Ein­füh­lungs­ver­mö­gen und eine gute Intui­ti­on.

„Hier fehlt es oft an einem tra­gen­den (Selbst-)Bewusstsein für die­se wert­vol­len Poten­zia­le und Mög­lich­kei­ten, die hoch­sen­si­ble und »lei­se« Wesens­zü­ge auf­wei­sen – für sich selbst und die Gesell­schaft. Es geht auch dar­um, zu erken­nen, dass inne­re Stär­ke nicht ent­steht, wenn wir hart zu uns sind, son­dern indem wir auch in schwie­ri­gen Pha­sen gut für uns sor­gen.“

Wenn Arbeitgeber:innen und Füh­rungs­kräf­te die wert­vol­len Bega­bun­gen und spe­zi­el­len Bedürf­nis­se von Hoch­sen­si­blen erken­nen und för­dern, kommt dies der gesam­ten Orga­ni­sa­ti­on zugu­te. Denn im rich­ti­gen Umfeld sind Hoch­sen­si­ble abso­lu­te Team­play­er, han­deln sehr loy­al und selbst­ver­ant­wort­lich, haben hohe mora­li­sche Wer­te und aus­ge­präg­te sozia­le Kom­pe­ten­zen. Außer­dem kön­nen sie häu­fig kom­ple­xe Zusam­men­hän­ge intui­tiv erken­nen und gehen mit gro­ßer Sorg­falt und Tief­grün­dig­keit vor.

Wie können Arbeitsstrukturen so gestaltet werden, dass sie für hochsensible Menschen funktionieren?

„Die Arbeits­wei­se ist oft eine ande­re, als der typi­sche Büro­all­tag als Ange­stell­ter es zulässt. Zum Bei­spiel kön­nen vie­le Hoch­sen­si­ble in kür­zes­ter Zeit sehr inten­siv und effek­tiv arbei­ten, weil das ihrer kom­ple­xen Reiz­ver­ar­bei­tung ent­spricht, brau­chen dazwi­schen aber häu­fi­ger Pau­sen und Ruhe zum Ent­span­nen und Rege­ne­rie­ren. Mit zeit­lich

eng getak­te­ten Arbeits­ta­gen oder lau­ten und vol­len Büro­räu­men funk­tio­niert das nicht. Hier wären zum Bei­spiel Ruhe­räu­me, selbst­ver­ant­wort­li­che Arbeits­zei­ten oder bestimm­te Tage im Home Office gute Mög­lich­kei­ten.“ So Nevoigt. Wenn hoch­sen­si­ble Mitarbeiter:innen einen tie­fe­ren Sinn in ihren Auf­ga­ben und Tätig­keits­fel­dern sehen und die Unter­neh­mens­zie­le ihren Wer­ten ent­spre­chen, brin­gen sie sich enorm ein, weiß er.

Sind Unternehmen offen für ein Umdenken und ein daraus folgendes Umstrukturieren? Wie kann Vorbehalten entgegnet werden?


Ja, der HSP-Coach kann ein all­mäh­li­ches Umden­ken beob­ach­ten. Tech­ni­sche und digi­ta­le Ent­wick­lun­gen tra­gen zu die­sem Wan­del bei. Die Digi­ta­li­sie­rung oder die Coro­na-Pan­de­mie haben Home­of­fice oder Remo­te Work als Optio­nen nor­ma­li­siert.


Nevoigt ist über­zeugt, dass die „klas­sisch hier­ar­chi­sche Arbeits­welt der Fabri­ken, wo ein Vor­ge­setz­ter plant und alle ande­ren aus­füh­ren“ über­holt ist. Abge­löst wer­den soll­te die­ses Modell durch „ein netz­wer­ken­des Zusam­men-arbei­ten auf Augen­hö­he, wo Men­schen ihre Ideen, Inter­es­sen, Exper­ti­sen und Erfah­run­gen ein­brin­gen. So kann eine Art orga­ni­sa­to­ri­sches Bio­top ent­ste­hen, in wel­chem ein sinn­vol­ler Mehr­wert und span­nen­de Ansät­ze gedei­hen. Hoch­sen­si­ble und empa­thi­sche Men­schen gewin­nen dadurch an per­sön­li­chem Gestal­tungs­raum und kön­nen frei­er arbei­ten. Sie kön­nen sogar zu Vorreiter:innen wer­den. Das möch­te der Bera­ter für hoch­sen­si­ble Unternehmer:innen und Füh­rungs­kräf­te ver­mit­teln.


Können dadurch bessere Ergebnisse erzielt werden?


Geht durch Umstel­lung auf neue Arbeits­struk­tu­ren nicht auch ein gewis­ses Maß an Effi­zi­enz ver­lo­ren? Die­se Sor­ge stammt laut Nevoigt aus einem „indus­tri­el­len Men­schen­bild“. Arbeits­kräf­te sol­len hier streng und kon­trol­lie­rend geführt wer­den. Füh­rungs­kräf­te müs­sen alles wis­sen und feh­ler­frei mana­gen. „Das erzeugt auf allen Ebe­nen enor­men Druck und ein demo­ti­vie­ren­des Kli­ma der Angst und Kon­trol­le.“ Und auch am Ver­trau­en in die eige­ne Wirk­kraft feh­le es dann.

Wer hin­ge­gen authen­tisch agie­ren kann, weil ein ver­trau­ens­vol­les Men­schen­bild vor­herrscht, erzielt span­nen­de­re Ergeb­nis­se. Nicht nur, neh­men Men­schen schwie­ri­ge Her­aus­for­de­run­gen eher an, wenn sie die­se für sinn­voll und wert­voll erach­ten (intrin­si­sche Moti­va­ti­on). Auch für alle ande­ren Mit­wir­ken­den kann sich eine ech­te Befrei­ung ein­stel­len. Davon, sich nicht mehr hin­ter einer „pro­fes­sio­nel­len Mas­ke des All­wis­sen­den und Unfehl­ba­ren ver­ste­cken zu müs­sen.“ Das soge­nann­te „Mas­king“ raubt Ener­gie und Res­sour­cen, die an ande­rer Stel­le sinn­vol­ler ein­ge­setzt wer­den kön­nen.

Sol­che Ver­än­de­run­gen ent­fal­ten gera­de für hoch­sen­si­ble Men­schen vie­le bis dahin unent­deck­te Mög­lich­kei­ten, stellt Nevoigt in sei­nen Coa­chings immer wie­der fest. Sinn­lo­se Tätig­kei­ten, Ängs­te, sozia­ler Druck und frü­he­re Abwer­tun­gen ent­mu­ti­gen Men­schen. Sie füh­len sich blo­ckiert. Mar­tin Nevoigt hilft die­sen Men­schen dabei, sich die­se Blo­cka­den bewusst zu machen und sie abzu­le­gen. Im Ergeb­nis gehen Men­schen danach sehr viel zuver­sicht­li­cher und enga­gier­ter vor. Dazu gehört auch, eine sinn­vol­le Abgren­zung zu ent­wi­ckeln und häu­fi­ger mal „Nein“ zu sagen.

„Men­schen sind nicht faul, sie sind nur blo­ckiert und ent­mu­tigt.

Sei­ne Tipps und Metho­den gibt Mar­tin Nevoigt in Grup­pen-Work­shops auch an die Stu­die­ren­den im Mas­ter Sozi­al­ma­nage­ment der Pari­tä­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin wei­ter. Zum Semes­ter­be­ginn 2022 dreh­te sich dabei alles um das The­ma Net­wor­king. Wie intro­ver­tier­te und hoch­sen­si­ble Per­so­nen erfolg­reich Net­wor­king betrei­ben kön­nen, hat er uns im Inter­view beant­wor­tet: zum Inter­view.

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Das Inter­view mit HSP-Coach Mar­tin Nevoigt (Web­sei­te) zum The­ma Hoch­sen­si­bi­li­tät im Berufs­all­tag und die redak­tio­nel­le Ver­ar­bei­tung erfolg­te durch Julia Mann (Mit­ar­bei­te­rin Mar­ke­ting Pari­tä­ti­sche Aka­de­mie Ber­lin: Kon­takt).

Foto: Syl­via John

Hoch­sen­si­bi­li­tät im beruf­li­chen Kon­text sozia­ler Arbeit

Semi­nar mit Mar­tin Nevoigt

15. Juni 2023

Sozia­le Arbeit, Bache­lor of Arts

Online-Stu­di­um mit Prä­senz­ein­hei­ten

Start: 1. Okto­ber 2023

Sozi­al­ma­nage­ment, Mas­ter of Arts

Berufs­be­glei­ten­der Fern­stu­di­en­gang

Start: 16. Okto­ber 2023

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