Vielfalt adé? Wohnraum für soziale Organisationen in Not
Studie zur Wohnraumsituation von Trägerwohnungen in Berlin
Berlin ist gelebte Vielfalt, aber wie lange noch? Seit vielen Jahren beruft sich die Stadt Berlin gern auf ihr Image als soziale und inklusive Stadt. Doch wie soziale und inklusiv ist Berlin angesichts des knappen Wohnraums und steigenden Mieten wirklich? Wie können Menschen mit besonderen Wohnbedarfen und einkommensschwache Haushalte am Leben in zentralen Stadtteilen überhaupt noch teilhaben? Einen erheblichen Nachteil auf dem ohnehin schon angespannten Wohnungsmarkt haben Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen, schutzbedürftige Minderjährige oder Geflüchtete oder von Armut Betroffene. Gibt es für sie überhaupt eine reelle Chance?
Für die hundertausenden betroffenen Menschen bleibt alternativ zur Wohnungslosigkeit meist nur noch der Wohnraum sozialer Träger. Doch auch dieser Wohnraum, beispielsweise Räume für betreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung, Jugendliche oder Menschen in Wohnungslosigkeit, befindet sich ebenfalls in Not. Das haben Gabriele Schlimper, Geschäftsleiterin des Paritätischen Landesverbands Berlin, und Co-Autorin Daniela Radlbeck in der 2024 veröffentlichten Studie zur Wohnraumsituation sozialer Träger des Paritätischen Landesverbands Berlin (Logos Verlag) genauer belegt.
Wir, die Redaktion der Paritätischen Akademie Berlin, hat ihnen acht Fragen zur Studie und ihren Ergebnissen gestellt.
Lage & Dringlichkeit
1) In der Studie sprechen Sie von einer erheblichen Verschärfung seit 2017. Können Sie konkret beschreiben, wie sich die Situation laut den Ergebnissen Ihrer Studie für soziale Organisationen in Berlin verändert hat? Was sind für die Träger und Klient:innen die größten Herausforderungen?
Gabriele Schlimper und Daniela Radlbeck: Seit 2017 hat sich der Mangel an Trägerwohnraum in Berlin verschärft. Unsere Studie zeigt, dass über 90 % der befragten Organisationen einen zunehmenden Bedarf an Trägerwohnraum verzeichnen. Soziale Organisationen stehen vor großen Herausforderungen, insbesondere durch die steigenden Mietpreise, durch den begrenzten Bestand an geeignetem und bezahlbarem Wohnraum für Betreutes Wohnen sowie durch die oft komplexen rechtlichen Rahmenbedingungen.
Gleichzeitig konkurrieren die sozialen Organisationen mit allen anderen Personen, die die wenigen bezahlbaren Wohnungen in Berlin anmieten möchten. Zudem kommt, dass Bewohnende in Trägerwohnungen keine bezahlbaren Wohnalternativen finden und deshalb unter Umständen länger als eigentlich notwendig in den Trägerwohnungen verbleiben müssen. Die Alternative wäre hier die Wohnungslosigkeit, was nun wirklich nicht gewollt sein kann.
Hier sind die sogenannten landeseigenen Wohnungsgesellschaften noch deutlich in die Pflicht zu nehmen.
2) Wer vermietet eigentlich Wohnungen an Träger und deren Klient:innen? Sind dies größtenteils privatwirtschaftliche Wohnungsunternehmen oder die Wohnungen des Landes Berlin?
Die Befragungsergebnisse zeigen, dass 68 % der Wohnungen, die an soziale Organisationen vermietet werden, von privaten Wohnungsunternehmen und Vermietern stammen. Lediglich 19 % kommen von landeseigenen Wohnungsunternehmen. Wir schätzen es sehr, dass es in Berlin sozial engagierte private Vermieterinnen und Vermieter gibt, die unsere Träger bei der Bereitstellung von dringend benötigtem Trägerwohnraum tatkräftig unterstützen. Hier sind die sogenannten landeseigenen Wohnungsgesellschaften noch deutlich in die Pflicht zu nehmen.
In der Praxis liegen die Marktpreise oft deutlich über (den Vorschriften), was insbesondere bei Neuanmietungen zu finanziellen Herausforderungen führt.
3) Wirft man einen Blick in Studie, ist dort von AV-Wohnen Vorschriften die Rede. Diese sind aber oft umstritten, weil die Angemessenheitsgrenzen in vielen Regionen unter den tatsächlich geforderten Mietpreisen liegen. Inwiefern stellt das die Träger laut der Befragung vor Schwierigkeiten?
Die Ausführungsvorschrift Wohnen (AV-Wohnen) definiert, welche Unterkunftskosten im Rahmen von Sozialleistungen als angemessen gelten. Soziale Organisationen in Berlin dürfen die Bruttokaltmiete innerhalb dieser Grenzen plus 20 Euro Umlage an Leistungsberechtigte im Betreuten Wohnen weitergeben. In der Praxis liegen die Marktpreise jedoch oft deutlich darüber, was insbesondere bei Neuanmietungen zu finanziellen Herausforderungen führt.
Laut unserer Befragung liegen 47 % der Trägerwohnungen unterhalb der AV-Wohnen-Grenzen, 21 % entsprechen den Vorgaben, doch 31 % überschreiten diese Werte. Die Mehrkosten werden in der Regel nicht refinanziert und müssen von den sozialen Organisationen selbst aufgebracht werden.
Besonders auffällig sind hier Unterschiede zwischen den Arbeitsbereichen: So gibt es im Leistungsfeld des betreuten Wohnens für Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich viele Wohnungen, die unterhalb der Bruttomietgrenzen liegen. Das ist vielfach auf lang bestehende Mietverträge zurückzuführen. Deren Mietpreise sind in den letzten Jahren, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben, moderat gestiegen.
Im Gegensatz dazu wirken sich hohe Marktpreise negativ auf Bereiche wie die Wohnungslosen- und Jugendhilfe aus. Hier ist der Bedarf nach Trägerwohnraum dynamischer z.B. durch gestiegenen Zuzug von unbegleiteten, minderjährigen Geflüchteten und der gesetzlichen Verpflichtung zur Aufnahme in das Betreute Jugendwohnen. Auch in der Wohnungslosenhilfe ist das Trägerwohnmodell in den letzten Jahren aus der Wohnungsnot deutlich angestiegen. Bei Neuanmietungen von Wohnraum sehen sich Organisationen hier mit steigenden Angebotsmieten konfrontiert, die kaum innerhalb der AV-Wohnen-Vorgaben liegen.
4) Wie bewerten die Träger die Wohnungen, die Ihnen zur Verfügung stehen? (hinsichtlich Barrierefreiheit, Größe, Zustand, Erreichbarkeit mit ÖPNV, Lage & Nachbarschaft)
Knapp 80 % der befragten Organisationen bewerten den barrierefreien Zugang und die Ausstattung der bestehenden Wohnungen als unzureichend. Von den insgesamt 4.200 erfassten Trägerwohnungen sind nur etwa 1.200 barrierefrei zugänglich.
Besonders wichtig wird zudem die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die Lage der Wohnungen, ein unterstützendes Wohnumfeld und eine gute Nachbarschaft eingeschätzt. Diese Aspekte verdeutlichen, wie entscheidend es ist, Betreutes Wohnen in allen Berliner Bezirken zu ermöglichen. Berlin soll eine soziale und inklusive Stadt bleiben, in der Menschen mit besonderen Wohnbedarfen und einkommensschwache Haushalte auch in zentralen Stadtteilen teilhaben können.
Finanzielle Auswirkungen
5) Welche konkreten finanziellen Belastungen tragen soziale Organisationen derzeit? Wie wirken sich diese Kosten auf ihre Fähigkeit aus, Klient:innen zu unterstützen?
Zusätzlich zu den finanziellen Belastungen durch Mieten, die die Grenzwerte der AV-Wohnen überschreiten, fallen weitere Kosten an. Dazu zählen steigende Energie- und Betriebskosten, Mietausfälle, Aufwendungen für Entrümpelungen nach Betreuungsabbrüchen oder Todesfällen sowie Instandhaltungs- und Renovierungskosten.
In den Entgelten für Betreuungsleistungen sind die Aufwendungen für Trägerwohnraum nicht prospektiv eingeplant. Gleichzeitig bindet die fortlaufende Suche nach bezahlbarem und geeignetem Wohnraum sowie die Verwaltung und Instandhaltung der Wohnungen erhebliche personelle Ressourcen, die von den Trägern zusätzlich aufgebracht werden müssen.
Auswirkung auf Betroffene
6) Können Sie uns schildern, wie sich das Wohnraumproblem auf den Alltag und die Zukunftsperspektiven der Betroffenen auswirkt?
Die Suche nach bezahlbarem Wohnraum ist für viele Berlinerinnen und Berliner längst zu einer Frage des normativen Mangels und natürlich des Geldes geworden. Für Menschen in sozialen Notlagen, mit seelischen Erkrankungen, mit geistigen, kognitiven oder körperlichen Behinderungen ist diese Herausforderung jedoch noch größer. Sie sind auf dem Wohnungsmarkt stark benachteiligt und oft nicht in der Lage, eigenständig eine Wohnung zu finden. Trägerwohnungen bieten diesen Menschen einen geschützten Ort, der ihnen Privatsphäre, Sicherheit und Stabilität gibt. Hier können sie sich auf ihre Genesung, persönliche Ziele und ein möglichst selbstbestimmtes Leben konzentrieren – mit der notwendigen Unterstützung im Hintergrund.
Im Rahmen der Studie haben wir den Film: „Berlin braucht Trägerwohnraum!“ vorgestellt. Dieser verdeutlicht die Dringlichkeit des Themas und gewährt Einblicke in die Lebensrealität der Betroffenen. Besonders eindrücklich ist die Aussage einer Protagonistin:
„Wenn ich nicht jetzt hier wohnen würde, dann würde ich wahrscheinlich auf der Straße leben.“
Dieses Zitat zeigt, wie unverzichtbar es ist, dass Menschen mit Unterstützungs- und Teilhabebedarf sichere und geschützte Wohnorte mitten in der Stadt finden können, um ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen.
Lösungen und Zusammenarbeit
7) Welche Maßnahmen vonseiten der Politik und Verwaltung wären Ihrer Ansicht nach jetzt unverzichtbar? Und welche Schritte wurden bereits verpasst, die heute noch Konsequenzen haben?
Um die aktuelle Krise zu bewältigen, sind entschlossene Maßnahmen von Politik und Verwaltung unverzichtbar. Dringend erforderlich ist eine Anpassung der Angemessenheitsgrenzen der AV-Wohnen an die realen Mietpreise, damit bezahlbarer Wohnraum auch für Menschen mit besonderen Bedarfen zugänglich bleibt. Gleichzeitig muss der Bau von sozialem und barrierefreiem Wohnraum deutlich vorangetrieben werden, während bestehende Trägerwohnungen langfristig gesichert werden müssen. Ein Kontingent an Trägerwohnraum wäre hilfreich, um kontinuierlich den Bedarf zu decken. Anreize für private Vermieter, bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen, könnten zusätzlich helfen, den akuten Mangel zu lindern. Ebenso wichtig ist eine bessere Refinanzierung von Zusatzkosten wie Mietausfällen, Instandhaltungen oder Entrümpelungen, um die Träger finanziell zu entlasten.
Viele dieser Herausforderungen resultieren aus verpassten Gelegenheiten der Vergangenheit. Der jahrelang unzureichende Bau von sozialem Wohnraum und barrierefreien Wohnungen, unzureichende Mietpreisregulierungen und der Verkauf kommunaler Wohnungsbestände und öffentlicher Liegenschaften haben dazu geführt, dass die Lücke zwischen Angebot und Bedarf heute größer denn je ist. Auch die besonderen Wohnbedarfe von Menschen mit Behinderungen oder seelischen Erkrankungen wurden lange Zeit und werden nach wie vor in der Stadtplanung zu wenig berücksichtigt. Die Konsequenzen sind ein massiver Druck auf Betroffene und Träger. Jetzt braucht es einen klaren Kurswechsel, um Berlin als soziale und inklusive Stadt zu bewahren.
8) Die Studie endet mit Empfehlungen und einem dringenden Appell. Was sehen Sie als das dringlichste Ziel für die kommenden Jahre? Wie können soziale Organisationen und Politik besser zusammenarbeiten, um diese Wohnraumkrise zu bewältigen?
Die dringlichste Aufgabe in den kommenden Jahren ist die Sicherung und der Ausbau des Trägerwohnraumangebots – sowohl im Bestand als auch im Neubau. Dies erfordert eine qualifizierte Bedarfserhebung und langfristige Planung auf Landes- und Bezirksebene. Eine inklusive Stadtentwicklung kann nur gelingen, wenn ein einheitliches Verständnis für diese Aufgabe entsteht und alle Akteure – von der Politik über die Wohnungswirtschaft bis hin zu sozialen Organisationen – verbindlich zusammenarbeiten.
Die Zusammenarbeit lässt sich durch innovative und verbindliche Kooperationen zwischen Verwaltungen, Wohnungswirtschaft und sozialen Organisationen stärken. Gleichzeitig müssen gezielte Maßnahmen, wie die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, die Bereitstellung von landeseigenen Grundstücken für den gemeinnützige sowie und vor allem ein gemeinwohlorientierten Neubau. Hinzu kommen eine Anpassung der Umlage für Trägerwohnraum und die Förderung und Entwicklung von sogenannten Generalmietmodellen. Auf Bundesebene wäre die Einführung einer „Dritten Säule“ im Mietrecht, die soziale Organisationen bei der Wohnraumversorgung stärkt, ein wichtiger Schritt. Nur durch gemeinsames Handeln kann Berlin als soziale und inklusive Stadt bewahrt werden.
Das Interview zur Studie „Wohnraum in Not“ (Logos Verlag Berlin) führte die Redaktion der Paritätischen Akademie Berlin mit Prof. Dr. Gabriele Schlimper, Herausgeberin, und Daniela Radlbeck, Co-Autorin der Studie.
Sie möchten mehr darüber erfahren, wie Sie sich als Träger in Berlin Zuwendungen sichern? Das Paritätische Forum für Zuwendungen und Förderungen unterstützt insbesondere Berliner Mitglieder des Paritätischen bei der Mittelakquise.
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Redaktion: Julia Mann(Paritätische Akademie Berlin)
Foto im Titelbild: Pexels
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Verhinderte Fachkräfte – Wie qualifizierte Frauen mit Fluchterfahrung auf ihrem Weg in den deutschen Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden
Gut qualifizierte muslimische Frauen arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau bzw. im Helferbereich. Das stellt Forough Hossein Pour in ihrer Beratungstätigkeit von Frauen mit Fluchterfahrungen immer wieder fest. Um sich mit den Gründen näher zu befassen, untersucht sie die Situation im Rahmen ihres Bachelorstudiums Soziale Arbeit an der Paritätischen Akademie Berlin. Eine herausragende Arbeit, auf die auch die Friedrich-Ebert-Stiftung aufmerksam geworden ist.
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Frau Hossein Pour, wo waren Sie vor dem Studium tätig und was hat Sie dazu motiviert, Soziale Arbeit an der Paritätischen Akademie Berlin zu studieren?
Hossein Pour: Ich arbeite seit August 2016 als Bildungs- und Berufsberaterin für Frauen mit Fluchterfahrung und Migrationsgeschichte bei KOBRA, einem Projekt, das im Rahmen der Gleichstellung vom Land Berlin öffentlich gefördert wird. Seitdem beschäftige ich mich täglich mit der Frage des Übergangsmanagements für Ratsuchende mit ausländischen Abschlüssen bzw. mit deren eingeschränkten Zugang zu Rechten und Teilhabemöglichkeiten.
Die Ursachen dieser strukturellen Benachteiligung zu erforschen war meine größte Motivation. Da unser Träger, der Berliner Frauenbund 1945 e.V., Mitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin ist, kam uns der Start des berufsbegleitenden Studiums im Herbst 2019 sehr entgegen. So habe ich mich in Absprache mit meiner Vorgesetzten Frau Dr. Hildegard Schicke für das berufsbegleitende Studium der Sozialen Arbeit an der Paritätischen Akademie entschieden.
Welche Themen hat das Bachelorstudium aufgegriffen, die Sie direkt in Ihrer Tätigkeit
anwenden konnten?
Hossein Pour: Die Rechts-Module (Grundsicherung, Familienrecht, das Allgemeine Gleichstellungsgesetz, Aufenthalts- und Asylrecht) waren für mich sehr praxisnah. Denn Asylsuchende finden sich nach ihrer Ankunft in Deutschland in einem hochkomplexen, selektiven und besonders dynamischen Verwaltungsprozess wieder.
Die Logik des Aufenthaltsrechts und Verwaltungsrechts zu verstehen, komplexe Fragstellungen analysieren zu können und unsere Profession als „Soziale Anwaltschaft“ gegenüber den Ratsuchenden zu begreifen, gab mir die Kompetenz die Interessen der Frauen besser durchzusetzen.
In Ihrer Abschlussarbeit haben Sie sich mit Mehrfachdiskriminierung von qualifizierten muslimischen Frauen mit Fluchterfahrung beschäftigt. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen? Haben Ihnen dabei Inhalte aus dem Studium geholfen?
Hossein Pour: Die Frage nach beruflichen Perspektiven von geflüchteten Frauen in Deutschland gehört zu meiner täglichen Arbeit als Bildungsberaterin bei KOBRA.
Wir beraten qualifizierte muslimische Frauen, die ausgesprochen erwerbsorientiert sind und eine qualifikationsadäquate Beschäftigung suchen. Sie kommen, aber auf dem Arbeitsmarkt nicht an. Gleichzeitig haben wir eine Arbeitsmarktforschung, die die mangelhafte Arbeitsmarktintegration darauf zurückführt, dass die geflüchteten Frauen kein Humankapital mitbringen, in traditionellen Familien leben und für Kinder sorgen, oder durch gesundheitliche Einschränkungen belastet sind.
Im Juni 2022 wurde die quantitative Studie zu „Rassistischen Realitäten in Deutschland“ des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) veröffentlicht, die den Rassismus in Strukturen und im Alltag von rassifizierten Menschen nachweist. Ich erkannte, dank der Theorien sozialer Ungleichheit des Moduls Soziologie und der im Modul Gender und Diversity vermittelten Postkolonialen Perspektiven, dass wir es hier mit einer Forschungslücke zu tun haben. Die NaDiRa-Studie bestätigte meine Annahme, dass dieser Ansatz der Berufsforschung die Barrieren beim Zugang zum Arbeitsmarkt, die muslimischen Frauen behindern, nicht erklären kann. Denn er beruht ausschließlich auf Geschlechterdifferenzierung, was nicht ausreicht. Wir brauchen auch eine qualitative Forschung, die die Mechanismen des Rassismus als Treiber der sozialen Ungleichheit im deutschen Kontext untersucht.
Was macht es weiblichen muslimischen Fachkräften mit Fluchterfahrung in Deutschland so schwer ihrem Abschluss entsprechend arbeiten zu können? Und wie genau haben Sie das untersucht?
Hossein Pour: In der Analyse konnte ich drei strukturelle Barrieren für qualifizierte muslimische Frauen mit Fluchterfahrung identifizieren, die sie auf dem Weg in eine ausbildungsadäquate Erwerbsarbeit ausschließen.:
(1) Der Kampf um einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Hier geht es um Frauen, die im Asylverfahren sind und die gemäß der Gesetzgebung aufgrund ihres Herkunftslandes der Kategorie „Geflüchtete mit einer schlechten Bleibeperspektive‘“ zugeteilt werden. Hier wurde deutlich, dass ihre mitgebrachte Qualifikation keine Rolle spielt. Es wird ihnen stattdessen der Weg über eine Ausbildung als Garantie für eine Bleiberecht geboten.
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(3) Der Kampf gegen die Diskriminierung von muslimischen Frauen mit Kopftuch auf dem Arbeitsmarkt. Hier konnte gezeigt werden, dass Frauen, deren im Ausland erworbene ausländische Qualifikation in Deutschland anerkannt wurde und die ein Kopftuch tragen, trotz allem keine bildungsadäquaten Jobs bekommen.
Ich habe die Lebensbedingungen von drei Frauen mit Fluchterfahrung untersucht, die ihre Hochschulqualifikation im Ausland erworben hatten und motiviert waren, in Berlin in ihrem Berufsfeld zu arbeiten. Dafür habe ich mit Hilfe des Intersektionalen Mehrebenenansatzes (Degele/Winker 2009) eine theoretische Perspektive und zugleich einen
praxeologischen Zugang gewählt. Zuerst habe ich eine empirische Analyse sozialer Ungleichheit im Alltag von geflüchteten Frauen durchgeführt. Daran habe ich die Ergebnisse systematisch auf theoretisches Wissen über
intersektional verwobene Herrschaftsverhältnisse bezogen. Hierbei habe ich Bourdieus Theorie der Kapitalarten und des sozialen Feldes sowie die postkolonialen Perspektiven nach Said und Hall einbezogen, die den empirisch nachgewiesenen Rassismus als Systeme erklären.
Teile Ihrer Bachelorarbeit sind von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) publiziert worden. Wie kam es dazu?
Hossein Pour: Das Team der „Beruflichen Orientierung für Frauen“ von KOBRA wurde von der FES für einen Vortrag angefragt. Sie wollten im wissenschaftlichen Fachworkshop „Aus Hilfskräfte Fachkräfte machen“ unsere Sicht aus der Beratungspraxis auf die Fragestellung.
Da wir jedoch in der Praxis die Probleme bereits gut qualifizierter Frauen sehen, die entweder unter ihrem Qualifikationsniveau bzw. im Helferbereich arbeiten, habe ich mich in meinem Input in der Fachveranstaltung auf die Ursachen struktureller Diskriminierung und Rassismus konzentriert. Dabei habe ich mich auf die Ergebnisse aus meiner Bachelor-Thesis zur Ausblendung der Mehrfachdiskriminierung von qualifizierten Geflüchteten bei der Fachkräftediskussion bezogen. Einige Monate später erhielt ich von der FES-Referentin eine E‑Mail mit der Anfrage, ob ich bereit wäre, an einer Reihe von Kurzpublikationen mitzuarbeiten, in denen die im Workshop angesprochenen Aspekte vertieft werden sollen. Ich habe mich sehr über ihr Interesse gefreut und sofort zugesagt. Mein Impulsbeitrag „Verhinderte Fachkräfte“ wurde dann im Januar dieses Jahres veröffentlicht.
Erzählen Sie etwas mehr über das Projekt KOBRA, in dem Sie arbeiten!
Hossein Pour: Hinter KOBRA steht als Träger der Berliner Frauenbund 1945 e.V., der in der Tradition der emanzipatorischen Frauenrechte entstanden ist und sich seit Jahrzehnten für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter einsetzt. In den achtziger Jahren ist KOBRA als eine überbezirkliche Beratungseinrichtung entstanden. Wir sind ein multidisziplinäres Team, das Frauen in ihrer Vielfalt in allen Fragen von Beruf, Bildung und Beschäftigung berät. Bei besonderen beruflichen Übergängen im Kontext der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Beruf und Pflege – z. B. Elternzeit, Familienpflegezeit oder dem Wiedereinstieg – werden Menschen mit Fürsorgeverantwortung beraten, egal welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen.
KOBRA unterstützt Unternehmen bei einer lebensphasengerechten Personalentwicklung. Am Sitz der Beratungsstelle KOBRA wurde ab 2021 auch eine Anlauf- und Koordinierungsstelle für Alleinerziehende in Berlin Kreuzberg-Friedrichshain aufgebaut.
Mehr zu der Bildungsberatung für geflüchtete Frauen und Veröffentlichungen von Forough Houssein Pour:
Mehr zu KOBRA: https://www.kobra-berlin.de
Was haben Sie jetzt nach dem Studienabschluss vor?
Hossein Pour: Ich werde mich gezielter in Gremien einbringen, die sich mit den Hindernissen beschäftigen, die die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit ausländischen Berufsabschlüssen verhindern. Mit Sorge sehe ich die Verschiebung des öffentlichen Diskurses weg von einer Willkommenskultur für Geflüchtete hin zu einer die humanitären Standards des Grundgesetztes gefährdenden Perspektive der Abschottung oder Rückführung. Deswegen finde ich es wichtig, vor allem in diesen Zeiten, wo der politische Rechtsruck die Demokratie gefährdet, über Strategien nachzudenken, die zur Bekämpfung und Beseitigung von rassistischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt beitragen.
Vielen Dank für das Interview, Frau Hossein Pour. Wir wünschen Ihnen für Ihre wichtige Arbeit und Ihren Einsatz für eine demokratische, offene Gesellschaft weiterhin sehr viel Erfolg!
*Soziale Arbeit ist ein berufsbegleitender Studiengang in Kooperation mit der Hochschule für soziale Arbeit und Pädagogik (HSAP). Mehr Informationen hier.
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Redaktion: Julia Mann (Paritätische Akademie Berlin)
Foto im Titelbild: Forough Hossein Pour
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